Berg-Brenner statt Berg-Doktor
Ein Leben für den Schnaps: Hubert Ilsanker darf bis heute im Gebiet des Nationalparks Berchtesgaden nach Enzianwurzeln graben, die in den Brennhütten am Berg gleich destilliert werden.
Blau, blau, blau blüht der Enzian“, sang Heino einst. Doch dieser Blaue Enzian, den die Wanderer so lieben, interessiert Hubert Ilsanker (46) überhaupt nicht. Der ist nämlich zu klein, viel zu mild und damit zu langweilig für einen Schnaps. Der Mann, den alle „Hubsi“ nennen, sucht andere Arten: den Tüpfel-Enzian, der jetzt im Juni blüht, und den Pannonischen Enzian, dessen lila Blüten sich erst im August öffnen. Hubsi hat jetzt eine Pflanze entdeckt.
Er spurtet die steile Bergwiese in der Nähe des Funtensees hinauf, in der Hand hält er eine Spitzhacke. Die schlägt er kräftig in den Boden. Immer wieder. Er werkelt wie ein Braunbär, der ein Murmeltier aus dem Bau zerren möchte. Dann hat Hubsi sein Gold der Berge gefunden: Er zieht eine mächtige, gut 30 Zentimeter lange Enzian-Wurzel aus dem Erdreich. „Die ganze Wurzel wird mehr als einen Meter lang“, erklärt er. „Ich ernte nur das obere Ende, damit sie sich erholen und nachwachsen kann.“ Das abgerissene Stück landet in dem Beutel, der vor seinem Bauch baumelt. „An einem guten Tag ernte ich 30 Kilo“, sagt Hubsi. Was er nicht sagt: Man muss für die Plackerei Arme wie ein Ringer haben und eine Lunge wie ein Marathonläufer. Und: Man muss die besten Stellen kennen, was nur mit jahrelanger Erfahrung geht.

© Brennerei Grassl
Mit den Jahren kommt die Milde
Als die Sonne hinter dem Steinernen Meer versinkt, trägt Hubsi seine Beute zur Brennhütte am Funtensee, eine von vier Stützpunkten im Gebiet des Nationalparks Berchtesgaden. Eggerleiten, Wasseralm und das Revier am Priesberg kommen später im Jahr dran. In der Hütte hackt der Brennmeister die Wurzeln auf Kaffeebohnengröße klein und setzt dann die gewaschenen Wurzelstücke mit Hefe und Quellwasser zur Maische an. Er lässt sie wochenlang gären und brennt schließlich das Destillat. Er muss sich dabei an die Brennzeiten halten, denn es gibt eine Zoll-Genehmigung dafür, die nur für bestimmte Tage ausgestellt wird.
Damit die Qualität stimmt, sind zwei Brennvorgänge notwendig. Der Feinbrand wird anschließend mit dem Hubschrauber ins Tal geflogen und zum Reifen in Eschenfässer abgefüllt, die in den Kalkfelsenstollen der Brennerei Grassl in Berchtesgaden lagern. Bis zu sieben Jahre bleibt der Brand dort, dann erst hat er die nötige Milde.
Arbeitsplatz: Almweiden
Weil dabei einiges an Destillat verdunstet und die Lagerung per se schon teuer ist, kostet eine 0,7-Liter-Flasche locker 60 Euro. Klingt viel? „Eigentlich müsste sie 200 Euro kosten“, sagt Hubsi. „Wegen der vielen Arbeitsstunden, die drinstecken.“ In einem guten Jahr produziert er bis zu 1.600 Liter der Spirituose. Eigentlich ist so ein Schnaps aus wilden Pflanzen unbezahlbar, denn alle Enzian-Arten stehen unter Naturschutz im Nationalpark Berchtesgaden. Nicht einmal ein Blümchen darf man pflücken. Die Extrawurst gibt es nur für Deutschlands älteste Enzianbrennerei drunten im Tal. In einem Banksafe lagert dort jenes Schriftstück aus dem Jahr 1692, in dem ein Fürstprobst der Familie Grassl die verbrieften „Rechte und Pflichten“, Almen im Gebirge durch „maßvolles, aber regelmäßiges Enzianwurzelgraben“ milchviehgerecht zu halten, schwarz auf weiß garantiert.
Dazu muss man wissen: Kühe machen um Enzian-Stauden einen weiten Bogen, weil er extrem bitter schmeckt. Auch Gämsen, Hirsche und Murmeltiere verschmähen die Pflanzen. Die Almen drohten deshalb zu verkrauten, hätten nicht sogenannte „Almputzer“ den Enzian gejätet oder Brennmeister wie Hubsi ihn hochprozentig zu verarbeiten gewusst. Neben dem Premium-Brand aus den Bergen stellen die Grassls heute auch Enzian aus kommerziell angebautem Gelben Enzian her. Diese Pflanzen werden bis zu 1,5 Meter hoch und gedeihen auch im Flachland Bayerns.
Nur etwa zehn Prozent der gesamten Enzian-Produktion stammt von den Brennhütten im Nationalpark. Abnehmer sind neben ausgewiesenen Liebhabern vor allem ambitionierte Restaurants, deren Gäste bereit sind, für ein Stamperl Schnaps mehr als fünf oder sechs Euro zu bezahlen. „Das passt natürlich nicht zu einem Wirtshaus, wo der Schweinsbraten acht Euro kostet“, erklärt Hubsi.
Er selbst liebt den eigenwilligen Brand. „Etwas Ursprünglicheres als einen Gebirgs-Enzian gibt’s doch gar nicht“, schwärmt er. Natürlich ist der bitter schmeckende Wurzelschnaps nicht jedermanns Sache. Man liebt oder hasst ihn. Aber Hubsi wurde eben von dem Getränk fast schon frühkindlich geprägt. Als er 16 war, half er damals in den Ferien zum ersten Mal beim alten Schnapsbrenner Hardl auf dessen Brennhütte am Priesberg als Wurzelgraber. „Der alte Hardl hat selber ausgschaut wie a Enzianwurz“, erinnert sich Hubsi. Aber er sei ein talentierter Schnapsmacher und strenger Lehrmeister gewesen.
Dabei war es durchaus dem Zufall zu verdanken, dass Hubsi zum Enzian kam. Als der alte Hardl nicht mehr brennen konnte, erinnerten sich die Grassls an den jungen Burschen, der damals unbedingt Brenner werden wollte. Sie machten ihn ausfindig – Hubsi war damals beim Bund – und trugen ihm den Job an. Er sagte sofort zu.

© Judith Kunz
Schnapsbrenner, Musikant – und Philosoph
Wenn er sich wieder auf dem Weg ins Tal befindet, macht es sich Hubsi in der winzigen Stube der Brennhütte bequem und steckt sich eine Pfeife an. Er hat dann Zeit zum Nachdenken, zum Schreiben. Oft holt er die Gitarre hervor und fängt an, Volkslieder zu schreiben. Hubsi ist nämlich nicht nur ein passionierter Schnapsbrenner, sondern auch ein talentierter Musiker und Sänger. Er spielt im Priesberg-Trio und im Oxn-Aug’n-Trio, geht mit seinen Musik-Freunden in ganz Europa auf Tournee.
Seine Lieder heißen „I geh ned an die Börse, i geh ins Gebirge“ oder „Zeit lassen, Enzian trinken“. Es sind oft Stücke, die das ursprüngliche Leben in den Bergen loben. Im Herbst macht sich Hubsi wieder auf den Weg ins Tal, seinen Hof bewirtschaften. In der freien Zeit geht er dann auf Skitouren oder gibt Konzerte mit seinen Musik-Spezln. Wenn es sein muss, trinkt er nach dem Auftritt schon mal einen Obstbrand, aber es sollte halt die Ausnahme bleiben: „Wenn i mit der Musi unterwegs bin, da gibt’s Meisterwurz und Enzian. Ist doch klar!“