Norwegische Outdoor-Philosophie: Reiches Leben mit einfachen Mittel
Es wird vom norwegischen Staat gefördert, es eint das Volk, und man kann es sogar an Hochschulen studieren: Friluftsliv, das Leben unter freiem Himmel! Thore aus der Hedmark zeigt, worum es dabei geht.
Noch ein Blick zurück. Das dunkelblaue skandinavische Kreuz mit weißer Kontur auf rotem Grund zappelt stramm im Wind. Wird immer kleiner, wie auch der weiße Rumpf der „Faemund II“, die sich mit ihrem markanten Ladekran auf dem Vorderdeck und den restlichen Passagieren wieder gen Mitte des Femundsees schiebt.
Wir bleiben mit der Stille zurück am Ufer des drittgrößten norwegischen Sees. Vor uns: Wildnis. Die Femundsmarka. Eine Gebirgsregion an der Grenze zu Schweden. Am Boden zwischen weiß schimmernden Birkenstämmen Beeren, Pilze, Moose, Flechten, Farne und Fellbündel. Lemminge, die panisch quieken, wenn ihnen grob profilierte Wanderschuhsohlen bedrohlich nahe kommen. Ach ja, und Steine, Brocken, Blöcke – noch und nöcher. Genügend Wohnraum für alle Trolle des Universums. An matschig-sumpfigen Stellen sind sie eine dankbare Tritthilfe, nach längerer Wegstrecke zermürbende Stolperfallen. Sogar für Thore, unseren Guide, einen echten Norweger und Experte für „Friluftsliv“ – Freiluftleben. Beate Wand
Es ist kulturelles Erbe und Identifikationsmerkmal der Norweger, mit dem sie sich von den gut 400 Jahren herrschenden Dänen abgrenzten. Der Begriff Friluftsliv tauchte 1859 zum ersten Mal in Henrik Ibsens Gedicht „Auf der Hochebene“ auf. Volksidole wie Polarforscher und Grönland-Durchquerer Fridtjof Nansen propagierten es mit Aussagen wie „Der Mensch gehört in die Natur“.
Die Outdoor-Philosophie
Im staatlichen Programm zur Gesundheitsförderung, in der Bildungs- und Integrationspolitik der Norweger ist Friluftsliv ein fester Bestanteil. Deswegen kann man es auch an 16 Hochschulen studieren. Höchstwahrscheinlich kommt jeder Norweger in seinem Leben mindestens ein Mal damit in Berührung. Friluftsliv ist auch die Wiederentdeckung der Langsamkeit. Oder, wie es der kletternde norwegische Philosoph Arne Naess treffend formuliert: „Ein reiches Leben mit einfachen Mitteln!“
Abendesssen mit Rentieren
Thores Rucksack wiegt bestimmt 40 Kilogramm. „Das geht noch“, findet der Hüne. 30 sind ganz bequem, 20 merkt er gar nicht, erklärt er mit seinem schüchtern-verschmitzten Grinsen abends am Feuer. Es lodert unter dem Schutz eines schräg aufragenden, flachen Steins. Der Geschmack des Rentierragouts liegt noch auf der Zunge. Die Herde, die während des Kochens grasend nah an den Zelten vorbeizog, blieb jedoch unversehrt. Es tröpfelt leicht. Allmählich schluckt Dunkelheit den See Roevoltjoennan vor uns und die baumlose Weite – Fjell, die skandinavische Bergtundra. Nach etwa 200 Höhenmetern vom Seeniveau – querfeldein, ohne Weg! – hat sie den feenhaften, krummstämmigen Birkenwald abgelöst.
Jedermannsrecht
Dass wir hier draußen zelten dürfen, besagt das im „Gesetz über das Leben im Freien“ festgeschriebene Jedermannsrecht (auf Norwegisch: Allemannsretten). Jeder Mann – natürlich auch jede Frau und jedes Kind – darf in Norwegen im „Hotel der tausend Sterne“ schlafen, die freie Natur genießen und deren Früchte nutzen, egal, wem das Land gehört, auf dem sie wachsen. Zumindest, solange er oder sie weder der Natur noch anderen Menschen schadet, sie stört, sich ohne Motor fortbewegt und einen Mindestabstand von 150 Metern zu Wohnhäusern wahrt.
In Nationalparks und besonderen Schutzgebieten gelten manchmal besondere Beschränkungen. Auch dürfen bestimmte Früchte wie wildwachsende Nüsse oder Moltebeeren nur von der Hand in den Mund, also zum sofortigen Verzehr gepflückt werden. Ein paar der gelborangenen „Bodenbrombeeren“, die für nordische Moorgebiete typisch, aber im Vergleich zu Blaubeeren eher vereinzelt wachsen und daher teuer sind, leuchten unterwegs am Rande des Birkenwalds zwischen dem Gras hervor, durch das sich ein sanft plätscherndes Bächlein schlängelt. Nur eine Beere im Mund lässt mich die Augen zusammenkneifen und das Gesicht verziehen: Sauer bis bitter und ein wenig muffig – die machen keine Lust auf mehr.
Die gut haltbaren Vitamin-C-Bomben waren allerdings bei skandinavischen Seeleuten und kanadischen Inuit beliebt gegen Skorbut. Auch gegen Gicht, Rheuma und Durchfall sollen sie helfen, und jakutischen Braunbären wird nachgesagt, dass sie sehr weit durch die Tundra laufen, nur um an diese Früchte zu gelangen. Von mir aus! Blaubeeren schmecken besser. Vor allem auf einem noch warmen, selbstgebackenen Kuchenstück unter einer Kugel Vanilleeis, wie es Niklas Hedlund serviert. Der Wirt auf Svukuriset, einer Wanderhütte in Ufernähe des Femundsees, wo auch Pippi, Michel oder Madita jeden Moment aufkreuzen könnten, verwöhnt seine Gäste. Man schmeckt, dass er es liebt, an einem Ort wie diesem zu arbeiten. Svukuriset ist eine von 450 Hütten – entweder bewirtschaftet oder als Selbstversorger –, mit denen der größte norwegische Wanderverband Den Norske Turistforening (DNT) Stadtmenschen die Wildnis komfortabel machen will. Dazwischen leiten rund 20.000 Kilometer mit einem roten T markierte Wege Wanderer zielsicher durch die Freiluft.
Einfach nur draußen sein
Auf einem von diesen sind wir – nach Eiern mit Speck vom Campingkocher – zur Svukuriset gewandert. Über den Grund, den ein 1.000 Meter mächtiger Gletscher nach der letzten Eiszeit hinterlassen hat. Bei einer Hüttentour spart man einiges Gepäck wie Zelt, Schlafsack, Matte und Kocher. Schließlich ist Friluftsliv nicht an sportliche Höchstleistungen in Form von Thore-Rucksäcken geknüpft. Oft ist es Bewegen in der Natur, genauso gut aber auch einfach draußen sein: angeln, Tiere beobachten, Beeren oder Pilze sammeln. Oder einfach nur auf einem Stein sitzen und anderen Steinen beim Sein zugucken. Allein oder mit anderen.

