Überdruss mit dem Überschuss
Billig einkaufen, teuer wegschmeißen: Ein Drittel der weltweit erzeugten Lebensmittel werden vernichtet. Über eine Milliarde Menschen hungern. Das Verschwendete blockiert dringend benötigte Anbaufläche, Wasserressourcen und Arbeitskraft! Foodsharing verhindert einen Teil dieser Perversion.

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Text: Beate Wand
Sie lacht mich an: eine leuchtend rote, pausbackige Paprika. Neben ihr ein Bund Möhren, Radieschen, ein Netz Zitronen, Bio-Rucola, Feldsalat, jede Menge Lollo Bianco, ein Chinakohl. Auch Fertiggerichte wie grünes Thaicurry, Vier-Käse-Pasta und Bulgursalat. Zum Nachtisch böte sich der Strawberry-Cheesecake an. All diese Köstlichkeiten sind nur knapp dem Irrweg in die Mülltonne entronnen. Dank Maike liegen sie nun vor mir, und ich darf sie mitnehmen.
Maike rettet seit zwei Jahren Lebensmittel. Für längere Zeit krankgeschrieben, suchte sie eine Aufgabe. Als sie eine Reportage über foodsharing sah, meldete sie sich auf der Internetplattform an. Auch, um Geld zu sparen. Seither hat sie über 7.300 Kilogramm Nahrungsmittel, die sonst einfach vernichtet worden wären, entweder selbst verzehrt oder an Familie und andere Menschen weitergegeben. „Gestern gab es unglaublich viel Salat“, begründet die 33-Jährige, warum sie bei foodsharing einen sogenannten Essenskorb eingestellt hat. Dieser zeigt sich jedem angemeldeten Foodsharer, der sich dann mit dem Anbieter zur Übergabe verabreden kann. So wie ich heute mit Maike.
Keine krummen Sachen
Auch wenn die Lebensmittel in der Holzkiste nur einen winzigen Bruchteil der 11 Millionen Tonnen ausmachen, die wir Deutschen von der Herstellung bis zum Privathaushalt pro Jahr wegschmeißen, berührt mich ihr Anblick mehr als die bloße Zahl: Die Verschwendung bekommt ein Gesicht. Eines, das mir durchaus das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. 275.000 Sattelschlepper ließen sich mit unserer entsorgten Masse beladen. Genug, um eine Schlange von Düsseldorf nach Lissabon und zurück zu bilden! Dazu kommen weitere vier Millionen Tonnen, die schon beim Erzeugen auf dem Acker verloren gehen, schätzen Experten: Salate werden untergepflügt, weil sie zu klein sind oder der Preis gerade im Keller ist. Zu krumme Gurken schaffen es gar nicht erst in den Supermarkt. Sensible Früchtchen wie Erdbeeren leiden auf dem Transport oft zu sehr, verderben unterwegs. Und wenn bei schlechtem Wetter die Grill-Lust nachlässt, vernichtet der Hersteller überproduzierte Würstchen gleich.
„Ich finde, Lebensmittel haben eine zweite Chance verdient“, plädiert Maike. Sie schnuppert lieber erst mal an einem abgelaufenen Joghurt und schaut genau hin, anstatt ihn einen Tag nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums (MHD) gleich in die Tonne zu verbannen. Quark und andere Milchprodukte halten sich meist deutlich länger. Auch das Mantra „Frische bis zum Schluss“ zweifelt sie an. Etwa Backstände im Supermarkt, die bis 21 Uhr frische Brötchen feilbieten. „Dann kriegst du abends warme Brötchen“, berichtet die ehrenamtliche Foodsaverin von ihren Rettungsaktionen. Foodsaver qualifizieren sich bei foodsharing über ein zu lösendes Quiz, in dem die Regeln zur Verteilung abgefragt werden. Im Gegensatz zum Foodsharer-Account, den jeder sofort bekommt, können sich Foodsaver in einen Kalender eintragen, um Essen bei Supermärkten, Caterern und Cafés abzuholen. Sie verpflichten sich, die Nahrung entweder selbst zu verwerten oder sinnvoll zu verteilen. Verkaufen ist verboten.
Ein Netzwerk ist wichtig
Um spontan 800 Brötchen oder vier Kisten voller Bananen unter die Leute zu bekommen, entwickelt jeder Foodsaver sein Netzwerk. „Die Leute lernen, wo was gebraucht wird“, lautet Anja Bischoffs Erfahrung. Neulingen gibt sie gerne Tipps. Als Botschafterin des Hamburger Bezirks Altona koordiniert die Lehrerin derzeit die Einsätze von rund 400 angemeldeten Lebensmittelrettern in ihren Stadtteilen. Rund ein bis zwei Stunden täglich, ihre eigenen Abholungen nicht mitgezählt. Zuverlässigkeit und Diskretion sind der Schlüssel für erfolgreiche Kooperationen mit Märkten, Kantinen, Restaurants und sogar Tankstellen. Manche Unternehmen werben mit ihrem Engagement, andere hängen es lieber nicht an die große Glocke. „Darüber entscheidet die Firmenpolitik. Wir sind ein Imagefaktor, der bei einigen gut ins Bild passt, bei anderen eher stören würde“, begründet Bischoff die unterschiedliche Haltung.
Das Credo von foodsharing lautet: „Wir retten immer alles!“ Die Foodsaver nehmen sämtliche vom Betrieb aussortierten Lebensmittel mit – auch der Veganer die Eier und die Muslima das Schweinefleisch. Was sie selbst ablehnen, müssen sie weiterreichen. Foodsharing akzeptiert auch Produkte mit erreichtem MHD. Waren mit überschrittenem Verbrauchsdatum dürfen Foodsaver jedoch auf keinen Fall verteilen. Sie entscheiden für sich, ob sie den Artikel noch verzehren möchten. Es ist erstaunlich, dass fast alle Produkte noch genießbar sind: Vor Blicken geschützt teilen sich fünf Foodsaver den samstäglichen Ausschuss eines Supermarkts.
Eine erste Orange markiert die Häufchen, auf die sie den Inhalt eines Fahrradanhängers und mehrerer riesiger Einkaufstaschen verteilen. „Juchhu, es gibt Schokomilch!“, freut sich eine Foodsaverin. Für eine andere sind die Kakis das Highlight, bei Gabriel passt das Müsli perfekt – seines ist gerade aus. Lediglich drei faulige Orangen und ihre leeren Netze wandern in den Mülleimer. Alles andere verzehren die Retter selbst, teilen es mit Familie, Freunden, Nachbarn und bringen einiges in ein nahe gelegenes Obdachlosen-Wohnheim. Gabriel findet an seiner Uni häufig Abnehmer.
Maike bringt viel von ihren Rettungen in das Seniorenwohnheim, in dem ihre Eltern leben. Obst liefert sie an das TeeMobil, das abends vor Flüchtlingsunterkünften warmen Tee ausschenkt. Und manchmal stellt sie zusätzlich einen Essenskorb auf die Plattform.

© Beate Wand
Fair-Teiler in Gefahr
Ich bringe den Inhalt meines Korbes abzüglich einiger Karotten und Rucola für den Eigenbedarf in einen sogenannten Fair-Teiler bei mir um die Ecke. Aus diesen öffentlich zugänglichen Schränken oder Kühlschränken darf sich jeder bedienen. Noch! In Berlin bedrohen die Behörden aktuell diesen Lösungsansatz gegen Lebensmittelverschwendung: Die Ämter stufen die Übergabeorte privater Nutzer als Betriebe ein. Damit verbundene strengere Auflagen würden das Ende der Fair-Teiler in ihrer bisherigen Form bedeuten. „In vorausgegangenen Gesprächen hatten wir für diese Form der Nachbarschaftshilfe von vielen Seiten grünes Licht bekommen“, wundert sich Stefan Kreutzberger.
Das Vorstandsmitglied des Vereins foodsharing ärgert sich über die amtliche Kehrtwende: „Erst wird man als Konsument aufgefordert, aktiv zu werden, und dann mit Formalien wieder ausgebremst.“ Foodsharing wehrt sich nun mit einer Petition an die zuständige Verwaltung und kämpft mit einer Mailkampagne für den Erhalt der Fair-Teiler.
Schließlich möchte unsere Bundesregierung die Verschwendung bis 2020 halbieren. Unsere französischen Nachbarn bis 2025, doch sie setzten jüngst ein klares Zeichen: Der Senat stimmte einem Gesetz zu, das Supermärkte verpflichtet, alle unverkäuflichen Lebensmittel für wohltätige Zwecke zu spenden oder als Tierfutter bzw. Kompost wieder in den landwirtschaftlichen Kreislauf einzuspeisen. Allerdings verursachen Groß- und Einzelhandel nach der Europäischen Umweltagentur lediglich fünf Prozent der Verschwendung. 42 Prozent vergeuden die Haushalte, 39 die Hersteller und 14 die Gastronomie. Da foodsharing über den Handel hinaus auch bei Privathaushalten und Gastronomie ansetzt, hebelt das Konzept bei 61 Prozent der Verschwendungs-Verursacher an.
Die Gemeinde der Essensretter wächst
In 350 Fair-Teilern tauschen Foodsharer inzwischen deutschlandweit Lebensmittel aus. Über 2.300 Betriebe kooperieren mit dem Verein, rund 13.500 Foodsaver haben zusammen bald eine Viertelmillion Rettungen hinter sich. „Ich hätte auch nicht gedacht, dass es so schnell wächst“, freut sich Kreutzberger, der zusammen mit Foodsharing-Gründer und Taste-the-Waste-Regisseur Valentin Thurn Bücher über Essensvernichtung und Welternährung veröffentlichte.
In nur drei Jahren erstarkte die Gemeinde der Essensretter deutlich. Das Thema Essensvernichtung scheint viele Menschen zu bewegen. Immer mehr wollen etwas dagegen tun. Auch der erneute Blick in „meinen“ Fair-Teiler bestätigt dies: Die Zitronen waren bereits wenig später weg. Am nächsten Tag fanden sich nur noch wenige Salate und zwei der Fertiggerichte darin. Sicherlich nicht lange – passenderweise hatte jemand anderes dafür auch zwei Becher Fertig-Dressing hineingestellt.