Update 11: Unverhofft kommt oft – Camino del Norte in die „falsche Richtung“
In Sevilla habe ich zunächst nach einer Arbeit gesucht, um dort das Geld für mein PCT-Abenteuer im Jahr 2017 zu verdienen und gleichzeitig mein spanisch zu verbessern. Soviel zur Theorie!

Kurzfristiger Abschied von Sevilla und Anpassung meiner Reisepläne
Nachdem ich allerdings bei einigen Hostels vorgesprochen habe, und mit den dortigen Rezeptions-Mitarbeitern gesprochen habe, erkannte ich die praktischen Problemfelder: eine sehr hohe Arbeitslosigkeit in Spanien, meine Spanisch-Kenntnisse sind für den Rezeptionsbereich zu gering und die Arbeitsleistung wird meistens gegen Kost und Logis erbracht. Alles Punkte, die es sehr schwierig bis unmöglich für mich machen, dort das Geld für mein PCT-Abenteuer zu erarbeiten. Nach Abwägen des Für und Wider habe ich mich dazu entschlossen, nach Deutschland zurückzukehren, weil es dort bessere Möglichkeiten gibt, das Geld für die Ermöglichung meines Reisetraumes in den USA zu verdienen.

Allerdings kam mir bei diesen Überlegungen ganz spontan die Idee, nicht sofort nach Deutschland zurück zu reisen, sondern zuvor nochmal einen Jakobsweg, meinen sechsten seit ich im Juni 2015 zu Hause gestartet bin, zu gehen. Somit konnte ich nach mittlerweile einjähriger Reise beim Pilgern auf die Rückkehr nach Deutschland und in das Arbeitsleben vorbereiten. Diesmal wollte ich allerdings einen Camino in die „falsche Richtung“, in Santiago startend, gehen. Ab und an hatte ich auf meinen Jakobswegen davor, Pilger getroffen, die wieder in Richtung ihrer Heimat zurücklaufen. Da ich sehr neugierig bin, wollte ich wissen, wie es sich anfühlt, gegen den großen Strom der Anderen, die Richtung Santiago gehen, zu pilgern.
Auf dem Camino del Norte rückwärts (840 km von Santiago an die Nordküste und von dort nach Irun)
Ein Camino-Laie wird denken: „Kann ja nicht so schwer sein, rückwärts zu gehen. Die Wege sind ja schließlich markiert!“ Geht man allerdings tatsächlich rückwärts, stößt man schnell auf die Schwierigkeiten. Die ersten beiden Tage beginnen noch einfach. Ich starte von Santiago aus bis nach Arzua auf dem bekanntesten Jakobsweg, dem Camino Frances. Dort kommen mir so viele Pilger entgegen, dass ich gar nicht auf die Wegmarkierungen achten muss. Ganz einfach! In Arzua biege ich dann auf den Camino del Norte. Dieser führt zunächst an die spanische Nordküste und dort immer an der Küste entlang über die Städte Gijon, Santander, Bilbao und San Sebastian bis nach Irun, dem Endpunkt. Fast alle Pilger gehen den Weg von Irun in Richtung Santiago. Ich habe mir vorgenommen, den kompletten Weg ohne technische Unterstützung wie GPS rückwärts zu gehen. Allerdings habe ich nach wenigen Tagen meinen Plan geändert, denn die Wegmarkierungen sind auf jedem Camino immer nur in die „richtige Richtung“ eindeutig. Stehen mir als „Gegenläufer“ an einer Kreuzung mehrere Wege zur Auswahl, dann sehe ich an der Wegmarkierung nicht, welcher Weg der richtige ist. So habe ich mich auf dem Camino del Norte bereits nach dem ersten Dorf verlaufen. Auch Pilger oder Anwohner, die ich im Zweifel fragen könnte, tauchen nicht gerade dann auf, wenn ich sie bräuchte. Schließlich ist die Zahl der Pilger hier sehr viel niedriger als auf dem Camino Frances. Somit habe ich mich in den ersten Tagen regelmäßig verlaufen oder ich bin gleich auf der Straße geblieben, um nicht auf dem Camino im Wald herumzuirren. Dann kam mein Aha-Erlebnis: ich fragte mal wieder entgegenkommende Pilger nach dem richtigen Weg. Ein deutscher Pilger zeigte mir auf seinem Handy die GPS-Tracks des Camino del Norte. Er fragte mich, warum ich diese technische Hilfe nicht auch nutzte? Am nächsten Morgen beim Frühstück in einer Bar lud ich mir dann die Tracks herunter. Genau rechtzeitig! Es folgte der erste Tag ausschließlich durch Wald und über Feld. Bestimmt 25 blieb ich allein an diesem Tag an Kreuzungen stehen, um auf meinem Handy nach dem richtigen Weg zu schauen. Diese GPS-Tracks sind wirklich ein Geschenk des Himmels…
Die nächste Besonderheit beim Rückwärtsgehen insbesondere, wenn man alleine startet: es ist sehr einsam. Die Kommunikation mit anderen Pilgern ist stark begrenzt. Ich sehe jeden Pilger, egal ob er mir tagsüber entgegenkommt oder abends in der gleichen Herberge „aufläuft“, immer nur einmal. D.h. es gibt nur eine Chance für interessantes Gespräch. Geht man „richtig herum“, dann kann man am nächsten Tag gemeinsam gehen oder sich in der nächsten Herberge treffen und das interessante Gespräch dort fortführen. Da ich aber entgegengesetzt gehe, trennen sich unsere Wege entweder sofort wieder oder in der Herberge am nächsten Morgen. Für mich, der u.a. pilgert, um von anderen zu lernen und inspiriert zu werden, ein schwieriger Punkt! Jetzt kann man auf die Idee kommen, ich könnte ja mit einem anderen Rückwärts-Pilger, den ich unterwegs treffe, zusammen gehen. Ich habe allerdings in über sechs Wochen auf dem Camino del Norte nur einen Spanier getroffen, der in meine „falsche“ Richtung gepilgert ist. Wir haben uns zwar ab und an in den Herbergen unterhalten, da er aber nur spanisch sprach und ich die Sprache nur rudimentär beherrsche, war die Kommunikation begrenzt. Ich habe zwar auf dem Camino von anderen „Rückwärts-Pilgern“ vor mir gehört, getroffen habe ich außer dem Spanier aber keinen. Diesen Aspekt der Einsamkeit ist meines Erachtens noch wichtiger als das Markierungs-Problem. Und jeder der allein „rückwärts“ einen Camino gehen möchte, sollte sich dies gut überlegen. Man muss schon gut mit sich allein klarkommen, um bis zum Ende durchzuhalten.
Da ich auf dem Camino del Norte insbesondere an der Küste entlang, viel draußen geschlafen habe, um die Kosten niedrig zu halten, war der Kontakt zu anderen Pilgern weiter eingeschränkt, schließlich entfielen somit auch die Gespräche am Abend in den Herbergen.
Ende Juli 2016 kam ich dann nach über sechs Wochen in Irun an. Was bleibt mir vom Camino del Norte in Erinnerung? Es gibt unheimlich viele schöne Küsten und Strände, aber auch viele Asphalt-Wege. Bei meinen anderen Caminos ist der Naturweg-Anteil deutlich höher gewesen. In meinem letzten Artikel habe ich u.a. von meinen Erfahrungen vom Camino Primitivo berichtet. Dieser beginnt in Oviedo und vom Camino del Norte (in der „richtigen Richtung“) kann man ungefähr in der Mitte nach Oviedo und auf den Camino Primitivo abbiegen. Von etlichen Viel-Pilgern wird der Camino Primitivo als einer der schönsten Caminos beschrieben. Auch ich war fasziniert von den vielen Panorama-Blicken dort. Deshalb würde ich empfehlen, wenn man auf dem Camino del Norte startet, in der Mitte auf den Camino Primitivo zu wechseln. Er bietet deutlich mehr Reize für das Auge, als die zweite Hälfte des Camino del Norte.
Lohnt es sich, den Camino del Norte rückwärts zu gehen?
Über die Schwierigkeiten habe ich bereits oben geschrieben. Allein werde ich wohl keinen Camino mehr angehen, da mir der Austausch mit anderen Pilgern zu sehr fehlt. Allerdings könnte ich mir vorstellen, nochmals rückwärts zu gehen, dann allerdings zu zweit oder zu dritt.
Nach Abschluss des Caminos fiel mir meine wahre Motivation für das Rückwärtsgehen auf: habe ich früher viele Jahre lang die Erwartungen anderer Menschen an mich erfüllt, so folge ich seit der Entscheidung zu meiner Langzeitreise ausschließlich meiner inneren Stimme! Vermutlich wollte ich den anderen und mir selbst zeigen, dass ich dies auch dann tue, wenn alle anderen mir entgegenkommen und manchmal in mir Gedanken auftauchen wie „bin ich hier das Geisterfahrer, der in die falsche Richtung fährt?“. Entgegen dem Strom meinen Kurs zu halten, das ist die Herausforderung! Mit dem Erreichen von Irun am Ende des Camino del Norte habe ich diese bewältigt. Ich hoffe, ich kann dadurch auch andere Menschen ermutigen, konsequenter als bisher ihrem Herzen und ihrem individuellen Lebensweg zu folgen…
Euer Andreas Tomsche
