Update 5: Vom vermeintlichen zum tatsächlichen Ende der Welt
Nachdem ich am 30. Oktober 2015 nach 146 Tagen wohl als einer der langsamsten Pilger in Santiago de Compostela angekommen bin, ist meine eigentliche Pilgerreise beendet.

© Andreas Tomsche
Nachdem ich einige Tage in Santiago verbracht habe, um mir die Kathedrale und die Stadt anzuschauen, bin ich am 03. November 2015 noch auf die 3-tägige Wanderung nach Finisterre an den Atlantik aufgebrochen, um dort in der Abgeschiedenheit meinen Weg auch innerlich abschließen zu können. In vorchristlicher Zeit, als die Menschen noch dachten, die Erde sei eine Scheibe, hielt man den Ort für das Ende der Welt, daher auch der Name Finisterre. Heute wissen wir, dass dies ein Irrtum war!

© Andreas Tomsche
Am 09. November 2015 bin ich dann von Santiago aus zunächst zum Flughafen Madrid und von dort mit dem Flieger über Buenos Aires nach Ushuaia, ganz im Süden von Argentinien, aufgebrochen. Nach insgesamt 50 Stunden Reisezeit, in denen ich ca. 13.000 km zurücklegte, habe ich zwei Tage später in Ushuaia erstmals patagonischen Boden betreten. Ushuaia ist die südlichste Stadt der Welt und somit das südliche Ende der (zivilisierten) Welt. Für meine 2.500 km lange Pilgerreise zu Fuß habe ich fast 5 Monate benötigt. Durch diese Langsamkeit konnte ich sehr viele Eindrücke über meine Mitpilger und die Natur noch beim Gehen verarbeiten und langfristig abspeichern. Genau deshalb habe ich diese langsame Art der Fortbewegung auch für meine Langzeitreise gewählt.
Da ich heute zum letzten Mal über meine Pilgerreise von meinem Heimatort in Südbaden über Frankreich ins spanische Santiago de Compostela schreibe, will ich diesmal über Begegnungen mit anderen Pilgern, die für mich sehr lehrreich waren, schreiben. Schließlich war das ja auch einer meiner Beweggründe, um mich auf die Jakobswege zu begeben. Wer mich kennt, weiß dass ich nicht an Zufälle glaube. Vielmehr denke ich, dass alle Begegnungen in unserem Leben, ob positiv oder negativ, interessant oder langweilig, letztlich in unserem Leben einen Sinn ergeben. Meistens erkennt man ihn allerdings erst, nachdem (oft Jahre später) das Lebens-Puzzle von uns zum überwiegenden Teil zusammengesetzt wurde. Dann wissen wir, dass jede Begegnung mit anderen Menschen Teil unseres Lebensweges ist und wo uns die jeweilige Begegnung mit dem anderen Menschen hingeführt hat.
Die folgenden Begegnungen sind nach der Reihenfolge des erstmaligen Zusammentreffens aufgeführt:

© Andreas Tomsche
Mit der jungen Französin A. verbrachte ich eine sehr intensive Laufwoche. Sie war von ihren religiösen (nichtgläubig), und politischen (ziemlich links) Einstellungen sowie in vielen Fragen der Lebensführung (Leben in Kommunen) so ziemlich das genaue Gegenteil von mir. Wir redeten und redeten jeden gemeinsamen Tag lang, ohne dass uns auch nur ansatzweise die Themen auszugehen drohten. Ich sah in der sehr kurzen Zeit mit ihr die Chancen, die sich mir boten. Da ich sehr neugierig und wissbegierig bin, konnte ich viele meiner Standpunkte in der Diskussion mit A. kritisch hinterfragen. Mit ihrer radikalen Andersartigkeit hat sie mich dazu herausgefordert, auch die andere Seite der Medaille wahrzunehmen. Häufig lagen wir bei der Problemanalyse überraschenderweise nah beieinander. Nur in den daraus abzuleitenden Maßnahmen drifteten wir auseinander. Leider war die Woche viel zu schnell vorüber und etliche Themen blieben unausgesprochen.
Dann gab es da noch A., eine Pilgerin aus der Schweiz, die meine Tochter hätte sein können. Wir sind uns das erste Mal in einer Pilgerherberge kurz hinter Le Puy über den Weg gelaufen. Zunächst einte uns „nur“ unsere gemeinsame Leidenschaft für Pizza. In den nächsten Wochen liefen wir zwar tagsüber getrennt, verabredeten uns aber am Morgen, jeden Tag abends in derselben Herberge zu übernachten. Dort haben wir dann entweder gekocht oder sind Essen gegangen, natürlich meistens Pizza. Bereits sehr schnell erkannte ich bei A., dass sie trotz ihres Alters schon eine Persönlichkeit mit sehr vielen Facetten ist. Auch wir hatten viel miteinander zu diskutieren teilw. auch noch um Mitternacht, und wenn es „nur“ die europäische Finanzkrise war . Unsere Begegnung entwickelte sich langsam aber stetig. Dies führte dazu, dass wir in Spanien fast jede Etappe gemeinsam gegangen sind. Am Ende sind wir gemeinsam in Santiago und Finisterre eingelaufen. Es war unheimlich spannend zu sehen, welche Potenziale ein junger Mensch mitbringen kann. Außerdem habe ich mich durch A. daran erinnert, dass eine Freundschaft, die sich langsam, aber stetig entwickelt umso stabiler ist! Wir werden sicherlich auch künftig und trotz meiner Langzeitreise in Verbindung bleiben.
An einem Sonnentag in Spanien wurde ich bei einer Pause in einer Bar von J, einem Amerikaner, angesprochen. Er hatte auf dem Camino Frances von dem „Deutschen mit dem Carrix-Anhänger“ gehört, der auch nach Patagonien will. Da J. schon früher dort war, fachsimpelten wir über meine bevorstehende Patagonien-Reise. J. erzählte mir, dass er mit seiner Frau und seinem einjährigen Sohn (!!!) auf dem Jakobsweg in Spanien unterwegs ist. Das Kind transportierten sie in einem Fahrradanhänger, mit dem sie ihren Sohn es auch über die Pyrenäen gefahren haben. J. hat den Hänger von hinten geschoben, während seine Frau ihn von vorne gezogen hat. Da die Herbergen nicht gerade auf die Bedürfnisse von Kindern eingerichtet sind, campierte die Familie im Zelt. J. und seine Familie habe ich nur zweimal gesehen. Das letzte Mal in Santiago, wo sie den Jakobsweg auch erfolgreich beendet haben. Dennoch hat mich die Begegnung mit ihnen tief beeindruckt. Viele Eltern von Kleinkindern, die gerne pilgern würden, verzichten darauf, solange das Kind noch klein ist. Von J. und seiner Frau kann man lernen, was es heißt seine Pläne mit Mut und Konsequenz umzusetzen. „Wo ein Wille ist, findet sich auch ein Weg!“. Manchmal muß man ihn einfach länger suchen! Hierzu habe ich bereits in meinem letzten Artikel einiges geschrieben.
Die letzte beeindruckende Begegnung hatte ich mit A., einem 66-jährigen Spanier. Ihn habe ich bereits 2012 auf dem Camino Frances getroffen, wo er mir seine Geschichte erzählt hat: vor vielen Jahren arbeitete A. als Seemann. Als sein Schiff sank, war er der einzige Überlebende. Aus Dankbarkeit pilgerte er zunächst von Spanien nach Jerusalem und wieder zurück. Später wanderte er jahrelang auf verschiedenen Jakobswegen u.a. auch in Deutschland und der Schweiz. Seine Geschichte hat mich damals mit dazu inspiriert, meine Langzeitreise anzutreten. Vor wenigen Wochen sind wir uns in einer Herberge wieder über den Weg gelaufen. Wir haben uns beide sofort wiedererkannt und fielen uns glücklich in die Arme. Dabei hat mir A. erzählt, dass er mittlerweile seit gut 10 Jahren pilgert und dabei rd. 105.000 km (!!!) gelaufen ist. Von ihm habe ich gelernt, konsequent auf meinem neuen Lebensweg als Langzeitreisender zu bleiben. Mit Ausdauer und regelmäßigem Laufen sind alle Entfernungen machbar!
Mein nächstes Update in vier Wochen handelt dann von meinen ersten Erlebnissen und Erfahrungen in der rauen Wildnis und Einsamkeit während meiner Patagonien-Reise.
Euer Andreas Tomsche

© Andreas Tomsche