Ausgewandert: Goodbye Germany
Was heißt eigentlich Heimat? Ist das mehr als ein Ort, eine Region, ein Land? Das Auswandererhaus in Bremerhaven wirft einen beeindruckenden Blick auf die Welt von Deutschen, die ihre Heimat verlassen haben. Und auf Einwanderer, für die Deutschland zur neuen Heimat wurde.

© Andreas Mayer
Text und Fotos: Andreas Mayer
Martha ist nur eine von über sieben Millionen. Mit 17 steht sie in Bremerhaven und wartet auf das Schiff, das sie ins „gelobte Land“ bringen soll – in die Vereinigten Staaten von Amerika, die USA. Wir schreiben das Jahr 1923. Zwei Jahre später heiratet sie Willy Seegers aus Hameln, mit dem sie in New Jersey eine Bäckerei führt.
Mehr als sieben Millionen Auswanderer brachen über Bremerhaven nach Übersee auf – ein Stück deutsche Geschichte, die gerne vernachlässigt wird. Nicht so im Deutschen Auswandererhaus in Bremerhaven. Die „Galerie der 7 Millionen“ ist eine Hommage an jeden Einzelnen von ihnen. Hier treten ihre ganz persönlichen Lebensgeschichten in den Vordergrund. Von einigen kennen wir nur den Namen und das Abfahrtsdatum, andere Biografien sind uns gut bekannt. Warum zogen all diese Menschen ein Leben in der Fremde ihrer alten Heimat vor? Was waren die historischen Hintergründe der europäischen Massenauswanderung? Im Eintrittsticket steckt modernste Museumstechnologie: Eine „iCard“ macht es zum Schlüssel, der die Welt des Museums – und von Martha, Willy & Co. – erschließt. Ob bei Computer- oder Hörstationen – wird die Karte gegen eine markierte Stelle gehalten, erhält man auf seiner Reise durch die Zeit wie von selbst Zugang zu bestimmten Informationen.
Einreise bleibt ungewiss
Wie erlebten die Auswanderer ihre Atlantiküberquerung? Wie waren die Verhältnisse an Bord? Die detailliert rekonstruierten Schiffsräume veranschaulichen die Reisebedingungen zu unterschiedlichen Epochen: Die Besucher erfahren mehr über die schwierigen Verhältnisse im düsteren Zwischendeck eines Seglers um 1850, stehen inmitten der Schlafsäle und Sanitärräume eines Schnelldampfers um 1880 und sehen den schlichten Komfort, den der imposante Ocean Liner „Columbus“ von 1929 auch in der Dritten Klasse bot.
Doch auch nach überstandener Atlantiküberquerung bleibt die Einreise in die USA vollkommen ungewiss. Ein lang gestreckter Gang führt in die Räume der Einwanderungsbehörde auf Ellis Island, wo US-Beamte entschieden, wer einreisen durfte und wer in sein altes Heimatland zurückkehren musste. Mehr als 16 Millionen Menschen wanderten zwischen 1892 und 1954 über die „Insel der Tränen“ in die USA ein. Als Besucher können Sie hier beispielhafte Fragen aus dem Jahr 1907 beantworten. Hätten Sie damals einreisen dürfen?
Der im Herzen New Yorks gelegene Grand Central Terminal stellte für viele Einwanderer das „Tor zum amerikanischen Kontinent“ dar. Im Auswandererhaus treten Sie an die exakt rekonstruierten Fahrkartenschalter mit ihren bronzenen Verzierungen und finden Fotos, Dokumente und Erinnerungsstücke zu deutschen Einwandererfamilien und ihren Nachfahren. Drei klassische Dioramen illustrieren beispielhaft den Arbeitsalltag vieler deutscher Einwanderer – ihre Erfolge, aber auch ihr Scheitern.
Frage aller Fragen: Was ist Heimat?
In einem Zensus von 2005 gaben 42,8 Mio. US-Amerikaner an, deutsche Wurzeln zu haben. Das sind mit über 15 Prozent der Bevölkerung mehr als die gemeinhin erwarteten Iren (10,8 %), Afro-Amerikaner (8,8 %), Engländer (8,7 %), Mexikaner (6,5 %) und Italiener (5,6 %). Während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wanderten fast sechs Millionen Menschen aus den deutschen Ländern beziehungsweise dem Deutschen Reich aus. Zu den Gründen zählten zunächst die schwierigen ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungen in Deutschland. Missernten in den 1830er Jahren, Verfolgung im Zuge der Revolution von 1848, eine tief greifende Arbeitslosigkeit bis in die 1880er Jahre und fortwährende Hungerkrisen sollten zu den entscheidenden sogenannten Push-Faktoren werden. Mindestens ebenso wichtig war aber auch die Attraktivität der „Neuen Welt“ mit den „Pull-Faktoren“ höhere Löhne, billiges Siedlungsland, Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg und schließlich auch politische Mündigkeit.
Erst in den 1890er Jahren ebbte die Auswanderungsbewegung ab. Denn mittlerweile florierte auch im Deutschen Reich die Konjunktur. Fortan kam es innerhalb Deutschlands zu massiven Binnenwanderungen hin zu neuen industriellen Ballungszentren wie etwa dem Ruhrgebiet. Deutschland hörte nun auf, ein Auswanderungsland zu sein, und wurde stattdessen als Einwanderungsland attraktiv.
Ein neues Gebäude im Auswandererhaus zeigt jetzt 300 Jahre Einwanderungsgeschichte nach Deutschland. In zweijähriger Forschungsarbeit wurden Familien in ganz Deutschland gesucht, die selbst oder deren Vorfahren Einwanderer, Flüchtlinge oder Arbeitswanderer waren. Angefangen mit den Hugenotten über münsterländische Wanderhändler, Ruhrpolen, italienische und türkische Arbeiter bis hin zu deutschen Flüchtlingen, Russlanddeutschen und Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien präsentieren Historiker die Geschichten und die Erinnerungsobjekte, die in den Familien zum Teil seit Generationen aufbewahrt wurden.
Die Besucher gelangen durch eine Schwingtür ins Deutschland des Jahres 1973 – das Jahr, das für die Wende in der deutschen Einwanderungspolitik steht: Am 23. November 1973 verhängt die Bundesrepublik Deutschland den Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte, die während des Wirtschaftsbooms so dringend benötigt worden waren. Eine typische Ladenpassage aus dieser Zeit dient als Hintergrund für die Erzählung von 300 Jahren Einwanderungsgeschichte. Manche Geschäfte sind Originale oder Nachbauten realer Läden, andere sind fiktiv.
In allen Geschäften finden sich Memorabilien der Einwandererfamilien: Erinnerungsobjekte, Dokumente, Fotos. Im Antiquariat, im Kaufhaus, im Reisebüro, im Fotogeschäft und in der Eisdiele. 15 Familien geben den Besuchern Einblicke in ihr Familienleben, ihren Glauben, ihre Arbeitswelt. „Jeder bekommt während des Rundgangs sehr persönliche Eindrücke davon, wie es sich als Einwanderer oder als Nachfahre eines Einwanderers in Deutschland lebt“, resümiert die Museumsleiterin und Migrationsforscherin Dr. Simone Eick. „Und sie bekommen Antworten auf Fragen wie: Was ist Heimat? Was bewahren die Zuwanderer und die nachfolgenden Generationen von ihrer alten Heimat auf?“ Egal ob sie Martha, Willy, Bülent oder Wladimir heißen.

© Andreas Mayer