Sein Name ist Ortler. Kurt Ortler. Kein Nachname könnte passender sein. Mehr als 1.300-mal ist er dem König Südtirols, seinem Namensvetter, seinem Hausberg, aufs 3.905 Meter hohe Haupt gestiegen. Niemand weiß so genau, ob seine Vorfahren nach dem Berg benannt wurden oder ob es nicht vielleicht doch andersherum lief. Fest steht aber: Heute muss sich der Ortler Kurt mit einem weniger hohen Gipfel zufriedengeben.
Der Piz Dora ist „nur“ ein Fast-Dreitausender über dem Ofenpass. Aber im Januar, mitten im Hochwinter, ist auch das ganz schön hoch – hier im östlichsten Zipfel Graubündens, nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt von Livigno, dem italienischen „Klein-Tibet“ in der Lombardei. Oder besser gesagt: Es ist kalt! Dafür scheint die Sonne von einem stahlblauen Himmel. Und der Pulverschnee, durch den Herr Ortler seine Aufstiegsspur legt, verspricht eine Abfahrt der Extraklasse. Das Beste aber: Es sind kaum andere Tourengeher unterwegs, die uns das jungfräuliche Terrain wegschnappen könnten.
Geheimtipp für Skitouren
Genauso hatten wir uns das vorgestellt. Das 25 Kilometer lange Münstertal (auf Rätoromanisch: Val Müstair) ist noch immer ein Geheimtipp für Skitouren, obwohl es gar nicht so sehr aus der Welt ist. Es erstreckt sich vom Engadiner Ofenpass im Westen (Kanton Graubünden, Schweiz) zum Südtiroler Vinschgau im Osten (Italien) und trennt die Sesvennagruppe von der Ortlergruppe. Die Landesgrenze verläuft mitten durchs Tal, und manchmal heißt es dort: „Die Pässe bitte!“
Taufers (Tubre) ist italienisch, die Verwaltungsgemeinschaft Val Müstair im oberen Teil der Talschaft (Tschierv, Fuldera, Lü, Valchava, Santa Maria und Müstair) gehört zu den Eidgenossen. Man fährt hier durch enge Dorfgassen, gerahmt von alten, stolzen Engadiner Häusern. Das Benediktinerinnenkloster St. Johann in Müstair, erbaut von den Karolingern, ist sogar über die Landesgrenzen hinaus bekannt und Welterbe der UNESCO.
Probleme im Skitouren-Paradies
Es ist eine Idylle, ganz ohne Bausünden und den Trubel der großen Skistationen. Doch so sehen das eben nur die Touristen. Das Bild vom intakten Landleben trübt sich schnell ein, wenn man weiß, dass die Schweizer Talseite vom Rest des Landes ziemlich abgehängt ist. Die Kantons-Hauptstadt Chur ist weit weg, über 150 Kilometer mit dem Auto. Und die Löhne in der Schweiz sind viel zu hoch, um gegen die Südtiroler jenseits der Grenze bestehen zu können.
Der Hälfte der Beherbergungsbetriebe fehlt das Geld für Renovierungen. Oder sie finden erst gar keinen Nachfolger, weil die Jungen wegziehen. Hoffnung machte ein Investor. Er wollte in Tschierv das Feriendorf „La Sassa“ bauen, dessen Wohnungen 50.000 Übernachtungen pro Jahr bringen sollten. Die 1.500 Einwohner, die zu 60 Prozent noch Rätoromanisch sprechen, hatten bei einem Volksentscheid dafür gestimmt. Doch dann kam die Pandemie dazwischen. Und seither liegen die Pläne auf Eis.
Südtiroler Wellnesshotel als Skitouren-Basis
Bis dato gibt es deshalb im oberen Tal kein Hotel, das Genuss-Skitourengeher in Ekstase versetzen könnte: zu alt, zu teuer, ohne Sauna, Pool und Wellness-Bereich. Ein solcher Stützpunkt existiert aber auf Südtiroler Seite in Taufers. Aus der alten Dorfwirtschaft machte die Familie Steiner bereits 1931 das „Albergo & Pensione Agnello“. Das „Lamm“ beherbergte damals Reisende, die über den Ofenpass ins Vinschgau kamen. 2004 übernahm Andreas Steiner das Haus in dritter Generation. Im Sommer 2018 eröffnete es nach umfassendem Um- und -Anbau als „Tuberis“, wie Taufers auf Rätoromanisch heißt.
Das moderne Vier-Sterne-Superior-Hotel mit seiner großen Wellnesslandschaft ist seither der perfekte Stützpunkt für eine genussvolle Skitourenwoche – die beste Adresse im Tal, mit trotzdem fairen Preisen. Typisch Südtirol eben. Außerdem arbeitet Andreas Steiner mit der Alpinschule Ortler in Sulden und deren Chef Hubert Wegmann zusammen. Das ist von doppeltem Vorteil. Erstens kennen Huberts Bergführerkollegen die Region so gut wie jedes einzelne Fach ihres Tourenrucksacks. Und zweitens ist der Hotel-Standort in Taufers ideal, um in alle Richtungen auszuschwärmen, je nach Wetter, Lawinen- und Schneelage.
Astronomie oder Skitour
Heute zum Beispiel schlägt Hubert den Piz Terza vor. Weil das Thermometer bei minus 15 Grad verharrt, hofft er dort trotz der südseitigen Hänge noch trockenen Pulverschnee zu finden. Man kann sich kaum vorstellen, dass nach den Abfahrtswonnen am Piz Dora noch eine Steigerung möglich ist.
Wir parken in Lü, einem kleinen Weiler. Klingt nach Sichuan/China, liegt aber im Val Müstair. So wenig Lichtverschmutzung wie hier findet sich sonst kaum in Mitteleuropa, weshalb das Dorf bei Astronomen beliebt ist.
Skitouren für ein ganzes Leben
Durch lichten Lärchenwald gewinnen wir schnell an Höhe. Am Horizont spitzt König Ortler hervor. Hubert gestikuliert mit den Stöcken, zeigt in alle Himmelsrichtungen. Seine Tourenvorschläge würden für ein ganzes Leben reichen. Vor einer verrammelten Hütte weht die Schweizer Flagge. Tolle Berge haben sie ja, die Eidgenossen. Wenn nur das touristische Angebot besser und günstiger wäre. Zum Glück haben wir das elegant gelöst.
Vom Gipfel reicht der Blick bis zur Bernina im Westen, zur Marmolata im Osten und zur Weißkugel im Norden. Die Abfahrt hält, was Hubert versprochen hat. In den Mulden hält sich der Powder wunderbar. Genau richtig – nicht zu viel, nicht zu wenig. Während auf der Nordseite des Ofenpasses bei Lawinenwarnstufe vier und wahren Schneemassen fast gar nichts geht und im unteren Vinschgau dagegen fast gar keine Flocken vom Himmel gefallen sind, herrschen hier perfekte Verhältnisse. „Der Ofenpass ist eine richtige Wetterscheide“, erklärt Hubert. „Das eröffnet viele Optionen und macht uns flexibel.“
Kultur-Stopp im Val Müstair
Nach dem Abfahrtsspaß drängt es uns in Richtung „Tuberis“. Doch nur Kulturbanausen würden dem Kloster in Müstair, seit 1983 UNESCO-Welterbe, keinen Besuch abstatten. Die vermeintliche Pflicht entpuppt sich schnell als spannende Kür, denn die Geschichte des Stifts reicht über zwölf Jahrhunderte zurück. Bis heute von Weltrang sind der größte frühmittelalterliche Wandmalereizyklus aus dem 9. Jahrhundert sowie die romanische Bilderwelt aus dem 12. und 13. Jahrhundert. Wir merken: Das Münstertal bietet nicht nur Leckerbissen für Genuss-Skitourengeher, sondern auch kulturelle Highlights.
An den folgenden Tagen erkunden wir das Tal und die Nachbarregionen in alle vier Himmelsrichtungen. Weil es eisig kalt bleibt, finden wir mithilfe unserer einheimischen Bergführer noch lange feinen Pulverschnee. Irgendwann sind es die brennenden Oberschenkel, die uns signalisieren, dass wir eine Pause einlegen sollten. Gut, dass wir im „Tuberis Nature & Spa Resort“ eingecheckt haben: Also nichts wie raus aus den Skitourenschuhen und rein in die Badeschlappen. Wir freuen uns wie die Schneekönige auf den Outdoor-Whirlpool mit Feuerschalen und freiem Talblick. Auf das Vorspeisen-Büfett und einen rubinroten Lagrein. Das Leben kann eben so einfach sein, wenn man einen Plan hat!
Reiseinfos: Münstertal, Vinschgau/Südtirol
Anreise: Via Fernpass oder Arlbergtunnel zum Reschenpass und im Vinschgau in Mals rechts abbiegen ins Münstertal. Aus der Schweiz via Ofenpass (auch im Winter meistens offen).
Wohnen: Tuberis Nature & Spa Resort: Familiengeführtes, modernes Vier-Sterne-Hotel in Taufers mit 2.000 Quadratmeter großem Wellnessbereich. Hauseigener Reiterhof für Pferdefreunde. Tesla zum Leihen. www.tuberis.com
Essen: Im Tuberis gibt es verschiedene Themen-Abende: Die Tage mit Vorspeisen- und Dessert-Büffet sollte man auf keinen Fall verpassen! Umfangreiche Weinkarte mit vielen Südtiroler Etiketten.
Tipp: Besuch des Benediktinerinnenklosters St. Johann in Müstair: www.muestair.ch
Bergführer: Alpinschule Ortler (Sulden): Sie bietet tolle Programme wie „Genuss-Skitouren Münstertal-Ofenpass“ mit fünf geführten Skitouren und sechs Übernachtungen mit HP im Hotel Tuberis in Taufers und kostenloser Sicherheitsausrüstung an (ab 1.060 EUR).
Touren-Optionen auch im Rojental, im Langtauferer Tal, in Sulden oder zum Piz Sesvenna. Kleiner Fact am Rande: Hubert Wegmanns Männer haben schon Angela Merkel auf den Cevedale geführt!
T: +39 0473 613004; www.alpinschule-ortler.com
Medien: Karte: swisstopo „Ofenpass mit Skirouten“, Nr. 259 S, 1: 50.000; Vital Eggenberger: „Skitouren Graubünden Süd“, SAC; „Rudolf und Siegrun Weiss: „Engadin – Skitouren für Einsteiger und Genießer“, Bergverlag Rother
Achtung: Im Schweizer Nationalpark (hinter dem Ofenpass) sind Ski- und Schneeschuhtouren strikt verboten!
Infos: www.vinschgau.net/de/ober-vinschgau
Touren
Das Münstertal ist das ideale „Basislager“ für eine Skitourenwoche, weil es Optionen in alle vier Himmelsrichtungen gibt. Das garantiert maximale Flexibilität – schließlich ist bei Skitouren nichts so wichtig wie ein Plan B.
1: PIZ TERZA (2.909 M)
leicht, 3 Std., 1.025 hm / 1.025 hm, 10 km (retour)
Charakter: Ziemlich einfache Skitour über weite Südhänge. Fantastisches 360-Grad-Panorama vom Gipfel. Perfekte Tour für den ersten Tag eines mehrtägigen Aufenthalts im Tal, weil man vom Gipfel sehr gut andere Anstiege (Piz Dora, Piz Daint, etc.) einsehen kann.
Ausgangspunkt/Endpunkt: Lü (1.920 m)
Route: Von Lü durch lichten Lärchenwald entweder entlang des Forstweges oder in direkter Linie zur Alp Valmorain (2.194 m). Von dort über perfektes Skigelände bis kurz vor den Sattel zwischen Muntet (2.763 m) und Piz Terza und rechts weiter zum etwas nach hinten versetzten Gipfel. Ein kurzer Steilhang sollte nur bei sicheren Verhältnissen begangen werden. Bei hoher Lawinengefahr weicht man besser nach rechts in die Felsen aus. Der Weiterweg zum höchsten Punkt ist einfach und eher flach. Abfahrt wie Aufstieg.
Einkehr: Kleinste Whiskybar der Welt (8,53 Quadratmeter) in Santa Maria: www.smallestwhiskybaronearth.com
2: PIZ DORA (2.951 M)
leicht, 3,5 Std., 1.317 hm / 1.317 hm, 12 km (retour)
Charakter: Prachtvoller und dennoch leicht zu erreichender Skigipfel. Etwas störend sind nur der Waldgürtel im unteren Teil und der hässliche Sendemast am Gipfel. Die Lawinengefahr ist dank des kupierten Geländes bei intelligenter Routenwahl überschaubar.
Ausgangspunkt/Endpunkt: Tschierv (1.660 m)
Route: Man folgt dem Hinweisschild „Funtauna Grossa“ Richtung Süden durch dichten Forst aufwärts. Orientierung bieten die Sommermarkierungen an den Bäumen. Ab der Almwiese mit der Alp Funtauna Grossa (1.920 m) weiter in südlicher Richtung durch Waldschneisen aufwärts zum Beginn eines kleinen Hochtals. Geradeaus zur Hütte „Era da la Bescha“ (2.200 m), weiter zur Felsformation „Grap Nair“ und hinauf zum breiten Sattel (2.570 m). Von diesem durch eine Mulde Richtung Westen, kurz über eine Steilstufe nach Norden auf den breiten Gipfelrücken und zum Schluss nur mehr leicht ansteigend auf die Gipfelkuppe. Abfahrt: Entlang der bekannten Uphill-Route oder bei sehr sicheren Verhältnissen kurz entlang der Aufstiegsroute und dann vor dem kurzen Steilhang links Richtung Osten über eine rassige Flanke und später durch Mulden hinab zur „Era da la Bescha“ und zurück ins Tal.
Einkehr: Mehrere „Beizli“ in Tschierv nach der Tour
3: MUNT BUFFALORA (2.630 M)
leicht, 690 hm / 690 hm, 2,5 Std., 9 km (retour)
Charakter: Einfachstes Gipfelziel der Region auf der Nordseite des Ofenpasses – eine Tour für alle Fälle, die auch bei heiklen Verhältnissen zu verantworten ist. Perfekt für An- oder Abreisetag.
Ausgangspunkt/Endpunkt: Gasthaus Buffalora (1.968 m), zwei km hinter dem Ofenpass
Route: Vom Parkplatz über die Passstraße und flach Richtung Süden, dabei ein Bachbett querend, danach über Almflächen leicht ansteigend zur Alp Buffalora (2.038 m). Links haltend durch ein kleines Tal aufwärts und beim querenden Forstweg links durch lichten Wald zu einer Hochfläche nördlich von Jufplaun. Hier (2.180 m) rechts halten (geradeaus führt die Route auf den Piz Daint) und Richtung Westen durch lichten Wald und über Kuppen auf den Gipfelstock zuhalten. Über einen kurzen, steilen und leicht bewaldeten Nordrücken erreicht man das weite Becken nördlich des Gipfelzieles. Zuletzt über die manchmal abgeblasene und harschige NO-Flanke zum höchsten Punkt. Abfahrt wie Aufstieg.
Einkehr: Gasthaus Buffalora