Nein, den Vorwurf, Bad Pyrmont kleinzureden, kann man Johannes Menze nun wirklich nicht machen. Der Doktor der Mikrobiologie macht Führungen durch das Städtchen im Weserbergland, für ihn ein „Weltbad“ und die Wiege der deutschen Geschichte. Denn der Brodelbrunnen, die älteste der 19 eisen- und salzhaltigen Quellen, „war wahrscheinlich das wichtigste Heiligtum der Germanen“. Jedenfalls kamen sie von weither und opferten bronzene Gewandnadeln, römische Münzen und eine seltene Schöpfkelle – lauter Funde, die heute im Museum im Schloss Bad Pyrmont zu sehen sind. Der unbedarfte Besucher staunt.
Auch der Kurbetrieb begann früh, sehr früh. 1556/57 lockte eine vermeintlich wundertätige Quelle Menschen aus ganz Europa nach Pyrmont, 10.000 sollen es gewesen sein, dabei war der Ort kaum mehr als Wald und Wiese. Das sollte sich ändern, Kuranlagen und Logierhäuser entstanden, auch Orte des Glücksspiels. Und wer hat sich hier nicht alles erholt, Benjamin Franklin zum Beispiel, „der Erfinder des Blitzableiters“ und Unterzeichner der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Und Friedrich Gottlieb Klopstock, „der Erfinder der deutschen Dichtung“. Und Georg Philipp Telemann, „der Erfinder der Lounge-Musik“. Ihre Namen standen in Kurlisten, die öffentlich auslagen.
Wo die Reichen sich kurieren
Der europäische Hochadel gab sich die Klinke in die Hand. Allein 1681 verbrachten 34 gekrönte Häupter aus ganz Europa ihren Sommer in Pyrmont. Zwei Namen fallen immer wieder: Luise von Preußen und Zar Peter der Große, wobei der, sagt Menze, das Wasser gar nicht angerührt hat. „Der wollte einfach nur mit normalen Leuten ganz normal reden.“ Ach ja, Goethe war auch hier. Aber wo war der nicht. Fünf ziemlich verregnete Wochen weilte er im Sommer 1801 in Pyrmont. Ein Abstecher führte ihn ins Franziskaner-Kloster im benachbarten Lüdge, angeblich, weil es dort gutes Essen gab. Und Bier.
Man traf sich auf der Hauptallee, 330 Meter lang, 30 Meter breit und bepflanzt mit Linden, vier lange gerade Reihen, „als hätte der König reingebrüllt: Still gestanden!“ Kutschen und Pferde waren hier verboten, deshalb sprechen sie in Bad Pyrmont auch stolz von „der ältesten Fußgängerzone der Welt“. Die Hauptallee war ideal zum „Spatzierengehen“, ja, mit „t“, sagt Menze, denn das Wort kommt vom lateinischen „spatiari“, was soviel bedeutet wie „einherschreiten, lustwandeln“, aber auch „größer werden“. Weil im Gespräch, und sei es über das Rückenleiden, der Geist wächst. Dabei hatten die Spaziergänger meist auch ein Glas mit Heilwasser in der Hand. „Man trinke das Wasser in kleinen Schlucken, während man sich bewegt – das ist das Entscheidende.“ Die Ärzte verordneten durchaus 20, 30 Gläser am Tag – mitunter mit Folgen. Dort, wo heute das Steigenberger Hotel steht, ein Fünfsternehaus, befanden sich damals Hunderte von Toilettenhäuschen. Denn das Heilwasser ist verdauungsfördernd, „das knallt richtig – nicht, dass die Leute hinter die Säule müssen“. Wir sind also vorgewarnt.
Kreativ durch Langeweile
Durch das Brandenburger Tor gelangen wir in den Kurpark. Kurz hinter dem Tor die nächste Allee, immer der gleiche Baum, immer der gleiche Abstand, „stinklangweilig“, sagt Menze. Aber Absicht: Kreativität wird durch Langeweile „getriggert“, neue Gedanken stellen sich ein. Zwischen den Alleen sind Grünflächen, „ein Spielplatz für Erwachsene“. Ebenfalls Absicht: „Nicht an Morgen denken, sondern im Hier und Jetzt sein, wie Kinder im Alter von sieben oder zehn Jahren.“
Das Herzstück des Kurparks ist der Palmengarten, genauer: „die größte Palmenfreianlage nördlich der Alpen“. Sie entstand 1912. „Überall, wo Deutschland damals Kolonien besaß, waren Palmen“, sagt Menze. Wer es sich leisten konnte, stellte Palmen in seinen mit Kohlen beheizten Wintergarten. Für den Pyrmonter Palmengarten fuhr der Direktor des Hofgartens eigens nach Italien und kaufte zwölf Dattelpalmen. Dann kam der Erste Weltkrieg und die Seeblockade der Engländer. „Weil die Kohlen fehlten, um den Wintergarten zu heizen, haben viele Leute ihre Palmen entsorgt“, zur Freude der Pyrmonter, denn ihr Palmengarten wurde nun größer und größer.
Erholungsort für Soldaten und feine Damen
Unter diesen Palmen erholten sich auch die „Zitterer“, Soldaten, die auf das Trommelfeuer an der Front mit einem unkontrollierbaren Zittern reagierten, „ein völlig neues Krankheitsbild ohne organischen Befund – den Begriff Trauma gab es damals noch nicht“. Pyrmont, das sich seit 1914 mit dem Zusatz „Bad“ schmücken darf, war sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg Lazarettstadt und blieb von Bomben verschont.
Lange Jahre war Bad Pyrmont auch ein bevorzugtes Ziel von Frauen aus gutem Haus, bei denen sich der gewünschte Nachwuchs partout nicht einstellen wollte. Ihnen wurde eine Moorkur verordnet. Es konnte natürlich auch am Mann liegen, „aber das konnte man einem Großherzog nicht sagen“, erzählt Menze. Also hat man „Sexualpartner“ aus Hannover kommen lassen, Jungs von der Kavallerie, „die hatten einen Ehrenkodex, es musste ja absolut geheim bleiben“.
Quellentasting im Gesundheitsresort
Und heute? Was für Königin Luise gut war, kann für uns nicht schlecht sein. Also buchen wir eine Moorpackung in der Klinik „Fürstenhof“. Therapeutin Elke Schröder streift die blauen Gummihandschuhe über, greift ein paar Mal in einen Eimer mit Moor, exakt temperiert auf 46 Grad, und verteilt die braune Masse auf Rücken, Schulter und Nacken. Dann werde ich eingewickelt und darf auf einem vorgewärmten Wasserbett 20 Minuten ruhen. Die wohltuende Wirkung des Moores ist für Therapieleiter André Schubert vor allem eine Folge der „langsamen Wärmeabgabe, durch die das Gewebe an der Oberfläche nicht gefährdet wird.“ Durchblutung und Stoffwechsel werden angeregt, Muskeln und Gelenke entspannt. Moor ist auch gut für die Haut, übrigens aufgrund genau jener Eigenschaften, die schon so manche Moorleiche konserviert haben.
Unsere nächste Station: das „Quellentasting“ in der Wandelhalle. Sechs der 19 Quellen sind für die Trinkkur zugelassen, alle sechs hat Freya Wennemann im Ausschank. „Alle sechs unterliegen der Heilmittelverordnung und dem Arzneimittelgesetz.“ Und alle sechs sind „Säuerlinge“, soll heißen: Sie haben mehr als 250 Milligramm Kohlensäure pro Liter. Ansonsten gibt es feine Unterschiede. Das Wasser aus der Helenenquelle ist gut für den Kreislauf und schmeckt „ein bisschen metallisch“, das aus der Trampelquelle ist „ein hervorragender Durstlöscher“ und das aus der salzhaltigen Wolfgangquelle „wird gern nach einer sportlichen Anstrengung getrunken“. Einer siebten Quelle, der Salinenquelle, entspringt Sole, die ihre gesundheitsfördernde Wirkung in der Hufeland Therme entfaltet, zwei Schwimmbecken werden damit gespeist. Außerdem wird in der Therme zweiprozentige Sole über Schwarzdornsträucher verrieselt. Lauter Gründe, warum Bad Pyrmont sich heute gern auch „Gesundheitsresort“ nennt.
erleben
DIE DUNSTHÖHLE
Es bisschen unheimlich ist sie schon: die in Europa einmalige Dunsthöhle, die schon Goethe sehr beeindruckte. Dank besonderer geologischer Eigenschaften gelangt hier Kohlendioxid aus einem Magmakern in bis zu 4.000 Metern Tiefe durch eine Felsspalte an die Erdoberfläche. Zum Glück ist das Gas schwerer als Luft und bleibt deshalb am Boden. Mit einer Kelle schöpft Hans-Werner Maurer bei einer Führung Kohlendioxid und kippt es über einer Kerze aus – sie erlischt. Dann lässt er Seifenblasen auf der unsichtbaren Oberfläche des Gases tanzen. Der Badearzt Johann Philipp Seip, der die Großen seiner Zeit behandelte, erkannte bereits um 1720 den therapeutischen Nutzen des Gases. Trockengasbäder werden noch heute im Gesundheitszentrum Königin-Luise-Bad angeboten, natürlich unter ärztlicher Aufsicht.
wandern
TOUR MIT TURMBLICK
Jeden Donnerstag in der Saison startet Stadtführerin Gisela Gromzik mit Gästen zu einer „Abendwanderung“. Eine ihrer Touren führt durch die Bombergallee und über den Philosophenweg hinauf zum Spelunkenturm. Der Höhenunterschied beträgt rund 220 Meter. Vom Turm, der hier 1902 eingeweiht wurde, hat man einen schönen Blick über Bad Pyrmont, das Tal und die umliegenden Berge. Benannt wurde er nach der „Spelunke“, einer „Vereinigung trunkfester, fröhlicher und für ihre Wohltätigkeit bekannter Männer“ (Tafelinschrift), die die 27 Meter hohe Stahlkonstruktion finanziert hatte. Vielleicht sollte man noch erwähnen, dass Gisela Gromzik 82 Jahre alt ist und seit 40 Jahren Gästeführungen macht. Chapeau!