„Eigentlich hätten Sie hier ein Wahnsinnspanorama.“ Eigentlich. Doch der Himmel ist wolkenverhangen, vom Wettersteingebirge, zu dem auch die Zugspitze gehört, ist nichts zu sehen. Wir stehen mitten in Murnau, dort, wo die Mariensäule normalerweise einen langen Schatten wirft. Heute nicht. Also lenkt Gästeführerin Yvonne Beisner unseren Blick auf die Fassade des Rathauses vor uns, von der Kaiser Ludwig IV., bekannt auch als Ludwig der Bayer, „ein bisserl streng runterschaut“. Dabei war er durchaus lebenslustig, sagt Beisner, und hat, wichtiger noch, Murnau die Marktrechte verliehen, anno 1332 schon. Wo bei alles, was wir sehen, jüngeren Datums ist. „Bei uns ist das wenigste alt“, sagt Beisner. Wiederholt wurde der Ort von verheerenden Bränden heimgesucht und nach dem letzten dann Mitte des 19. Jahrhunderts einheitlich im Biedermeierstil wieder aufgebaut. Er blieb allerdings „ziemlich grau“. Das änderte sich erst mit Emanuel von Seidl, einer der ganz Großen unter den Architekten seiner Zeit. „Er hat sich in den Ort verliebt“ und tief in die eigene Tasche gegriffen, um Murnau aufzuhübschen. Seidl ließ sogar die Kirche nachträglich mit einem Zwiebelturm versehen – schließlich hatte Carl Spitzweg sie ja auch so gemalt. Vor allem aber sorgte Seidl in den Jah ren von 1906 bis 1911 dafür, dass die Fassaden am Unter- und Obermarkt farbig gestaltet und mit volkstümlichen Fresken versehen wurden.
DER „BLAUE REITER“
Als Gabriele Münter, Wassily Kandinsky, Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky 1908 Murnau besuchten, auf der Suche nach einem Platz fernab vom Münchner Kunstbetrieb, präsentierte sich der Ort also schon ziemlich bunt. 1909 kaufte Münter in Murnau ein Haus, hier verbrachte sie fortan mit Kandinsky vor allem die Sommermonate. Im Volksmund wurde es das „Russenhaus“ genannt. Jawlensky und Werefkin waren oft zu Gast, auch August Macke und Franz Marc, der im nahen Sindelsdorf wohnte. Gemeinsam gaben Kandinsky und Marc einen Almanach heraus, der diesem losen Zusammenschluss von Künstlern den Namen gab: „Der Blaue Reiter“. Murnau gilt seither als „Wiege des Expressionismus“. Die gemeinsame Schaffensphase endete abrupt mit dem Ersten Weltkrieg. Kandinsky und Münter flohen ins Ausland, zwei Tage nach der Kriegserklärung Deutschlands an Russland. Franz Marc und August Macke fielen im Krieg
PILGERSTÄTTEN FÜR KUNSTFREUNDE
Wer heute auf den Spuren der Künstler wandeln will, kommt am Münter-Haus nicht vorbei. Allein der Garten lohnt einen Besuch. Drinnen knarren die Dielen. Vom Fenster geht der Blick wahlweise auf die Kirche und die Dächer von Murnau oder auf das Alpenvorland und die Berge. In der holzgetäfelten Essecke Hinterglasbilder von Kandinsky, von der Volkskunst inspiriert wie die handbemalten Holzmöbel. Schreibtisch, Bücherregal und selbst das Toilettenschränkchen – überall hat Kandinsky seine Motive hinterlassen. Knarrende Dielen auch im nahen Schlossmuseum, das die umfangreichste Sammlung von Münter Werken beherbergt. Ein Abstecher zum Franz Marc Museum in Kochel am See komplettiert das Programm ambitionierter Kunstfreunde.
DAS MURNAUER MOOS
Murnau wäre nicht Murnau, kein kleines Kunstmekka, wäre da nicht diese beeindruckende Landschaft und Natur. Das Bergpanorama, natürlich, aber auch die Seen. Und das Murnauer Moos, eines der abwechslungsreichsten Moorgebiete Mitteleuropas. Geformt wurde diese Landschaft von der Eiszeit, in der sich ein mächtiger Gletscher durchs Land schob und alles mitnahm, was nicht niet- und nagelfest war. Der Hügel, auf dem heute Murnau liegt, widerstand ihm. Und die Köchel, kleine Erhebungen im Murnauer Moos, wurden lediglich abgerundet. Auf einem dieser Köchel, dem Moosberg, errichteten die Römer eine Siedlung, hier lebten vor allem Handwerker, die die Reisenden auf dem Handelsweg von Oberitalien nach Augsburg versorgten. Dieser Köchel und ein weiterer wurden im 20. Jahrhundert abgebaut – hartes Gestein, das als Baumaterial mit Floß oder Bahn nach München befördert wurde. Geblieben sind zwei tiefe Seen, deren Wasser grünblau schimmert. Seit 1980 stehen große Teile des Murnauer Mooses unter Naturschutz.
HOCH- UND NIEDERMOOR
Traudl Bergmeister ist am Moos aufgewachsen. Die 71-Jährige bietet Führungen an und erzählt, wie das Moor entstanden ist, wie es bewirtschaftet wird. Letzteres weiß sie aus erster Hand, denn die Familie ihres Mannes „hat immer Moos gehabt“. Im Niedermoor haben sie Schilf gemäht, als Einstreu für die Ställe. Die Einstreu musste trocken sein. Also wurde ein Fichtenstamm in den Boden gerammt und die Einstreu rundherum aufgeschichtet, birnen- oder kegelförmig, und dann festgetreten. „Meine Mutter musste immer treten.“ Von diesen Drischen haben sich unter anderem Gabriele Münter und Franz Marc inspirieren lassen. Drischen sieht man heute kaum noch, auch wenn immer noch gemäht wird, meist im September. „Dann sind die Bodenbrüter alle flügge und die Pflanzen ausgesamt“, sagt Traudl Bergmeister. „Wenn nicht gemäht würde, würde alles verbuschen.“ Und Blumen, zum Beispiel die Knabenkräuter, die zu den Orchideen gehören, „hätten keine Chance mehr“. Besonders üppig sprießt es im Niedermoor, weil die Pflanzen hier über das Grundwasser mit Nährstoffen versorgt werden. Im Frühsommer entfaltet sich eine große Pracht, von Wollgras über Trollblumen bis hin zu Schwertlilien, Iris und Knabenkräutern, „von rosa bis violett“. Dagegen wachsen auf dem sauren Torfboden im Hochmoor, das ausschließlich von Regenwasser gespeist wird, kaum Pflanzen. Fällt sehr viel Regen, dann gleicht das Moos einem See. Die Sorge der Naturschützer gilt dann vor allem Bodenbrütern wie dem Wachtelkönig, deren Nester davonzuschwimmen drohen. Und weil auch bei unserer Runde der Regen einsetzt, ganz in der Nähe der St.-Georgs-Kirche, die auf einem Hügel am Rande des Murnauer Mooses thront, erhalten wir eine kleine Extra-Führung durch die älteste Kirche der Region, im Volksmund auch das Ramsachkircherl oder „Ähndl“. Denn Traudl Bergmeister hat den Schlüssel dabei. Das Gotteshaus kennt sie aus dem Effeff. Unter dem Altarbild des Heiligen Georg mit seinen geradezu femininen Zügen hat sie vor über 50 Jahren ihrem Mann das Jawort gegeben.
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FREILICHTMUSEUM GLENTLEITEN
„Oberbayern im Wandel der Zeit erleben“ – das ist das Versprechen des Freilichtmuseums Glentleiten. Auf einer Tafel am Eingang sind die Tiere vermerkt, „die auf dem Gelände sind“, das Murnau-Werdenfelser-Rind zum Beispiel, eine alte bayerische Landrasse. Das Gelände selbst ist 40 Hektar groß, es geht rauf und runter, im Hintergrund das Alpenvorland mit dem Kochelsee. Fast 70 historische Gebäude erzählen vom Leben ihrer ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner. Es sind überwiegend Bauten mit geringer Dachneigung und Schindeln aus Fichten- oder Lärchenholz. Hier ein Blick in Almkaser und Töpferei, dort in Sägewerk und Wetzsteinmühle. Und am Ende denkt man: Früher war alles besser? Von wegen … Geöffnet vom 19. März bis 11. November.
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HEIMATLOSER SCHRIFTSTELLER
Zehn Jahre lang war Murnau der Lebensmittelpunkt von Ödön von Horváth (1901–1938). Der Schriftsteller saß in Biergärten und im Bauerntheater, tauchte ein in die Welt der kleinen Leute, schaute ihnen aufs Maul und fand so den Rohstoff für seine Literatur. In Romanen wie „Jugend ohne Gott“ warnte der Diplomatensohn vor dem aufkommenden Faschismus. Vergebens. Die Nationalsozialisten machten ihm das Leben schwer. Horváth musste Murnau verlassen. Unter dem Dach des Schlossmuseums sind Texte, Bilder und historische Filme zu sehen – es ist die einzige öffentliche Dokumentation zu seinem Leben und Werk. Mehr über seine Zeit in Murnau kann man auch auf einem „Horváth Rundweg“ mit zwölf Stationen erfahren. Die Runde dauert etwa eineinhalb Stunden.
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DEFTIGES FÜR DURSTIGE
Anfang des 19. Jahrhunderts gab es in Murnau acht Brauereien. Zwei sind geblieben, darunter das Griesbräu. Seit 1676 wird hier, von Pausen abgesehen, gebraut. Jung und alt, Hiesige und Urlauber, untergärig und obergärig – in Brauhaus und Biergarten geht es bunt und lebendig zu. Wer mag, holt sich Haxe, Knödel, Brezel oder Wurstsalat. Brauereiführungen und Bierseminare für Gruppen ab zehn Personen.