„Das ist jetzt kein idealer Schnee für Tierspuren – aber das hier ist ein Fuchs gewesen“, sagt Nature Guide Manuel Stabentheiner und deutet auf ein paar filigrane Abdrücke, die Richtung Wald führen. Wir befinden uns im Naturpark Karwendel, dem mit 739 km² größten Naturpark Österreichs. Fast das gesamte Karwendelmassiv ist Teil des ältesten Tiroler Schutzgebiets. An diesem klirrend kalten Februarmorgen funkeln die Schneekristalle nur so im Sonnenlicht. Der Himmel zeigt sich von seinem allerschönsten Blau. Was für uns Wanderer Kaiserwetter ist, verlangt den hier lebenden Wildtieren Maximales ab. Mit Ausnahme des Murmeltiers, das es sich im Bau kuschelig warm macht und die kalte Jahreszeit einfach verschläft, sind fast alle anderen heimischen Tiere winteraktiv. „Aber sie arbeiten auf Sparflamme, müssen mit ihrer Energie haushalten“, betont Manuel. Schließlich gestalten sich Futtersuche und Beutefang im Winter ungleich schwieriger als im Rest des Jahres. Deshalb ist es umso wichtiger, dass Wanderer die Tiere nicht stören. „Ein Reh, das vor uns erschreckt und flüchtet, verbraucht das zehn- bis zwölffache an Energie“, erklärt Manuel. Bei eisigen Temperaturen und stark eingeschränktem Nahrungsangebot kann das einem Todesurteil gleich kommen. Umso bewusster setzen wir also unsere Schritte, wandern achtsam durch das winterliche Falzthurntal, das sich von Pertisau am Achensee neun Kilometer lang Richtung Südwesten bis zur Lamsenspitze erstreckt, und halten dabei nach weiteren Spuren Ausschau. Es dauert nicht lang, und wir werden fündig. Hase und Hirsch haben deutliche Abdrücke hinterlassen. Unter einer großen Tanne ist ein Eichhörnchen herum geflitzt. Ob es hier Eicheln, Bucheckern und Nüsse versteckt und ausgegraben hat? Gar nicht so einfach, die gesammelten Schätze im Winter unter der Schneedecke wiederzufinden – tatsächlich können sich die Tiere auch nicht an alle Verstecke erinnern. Was im Boden verbleibt, darf dann im nächsten Frühling als Setzling aus der Erde sprießen.
Wer sich mit einem Naturparkführer auf den Weg macht, erfährt viel Wissenswertes zur heimischen Tierwelt. Doch auch die Pflanzen kommen nicht zu kurz. „Schaut euch mal an dieser Stelle um – wie vie le verschiedene Arten Moos entdeckt ihr?“, fragt Manuel. Fünf bis sechs sind es. Auf einmal wird klar, dass Moos nicht gleich Moos ist – und Flechten gibt es ja auch noch. Sie sind besonders spannend, weil sie eine Symbiose aus Pilz und Alge darstellen – der Algenanteil ist für die Fotosynthese zuständig, der Pilzanteil für Wasserversorgung und Nährstoffaufnahme. „Wenn ihr viele Flechten im Wald findet, ist das ein gutes Zeichen“, verrät Manuel, „denn sie sind Luftgüteanzeiger“. Also atmen wir nochmal ganz besonders tief ein, ehe wir aus dem Wald heraus und in die offene Weite des Tals treten. Sofort fällt der Blick auf die umliegenden Berggipfel, ein traumhaftes Winterpanorama, Postkartenperfekt. Von hier ist es nicht mehr weit bis zur Falzthurnalm, wo die überaus urige Sennhütte der Wirtsleute Perzl zur Einkehr verlockt. Zwischen rustikalen Holzwänden, gemauertem Kamin und Braunbärenfell schmeckt der noch warme Apfelkuchen himmlisch. Das Gespräch kehrt zurück zu den Überlebensstrategien der Wildtiere im Winter. „Das Schneehuhn zum Beispiel hat im Winter wärmende Doppelfedern wie diese hier“, erzählt Manuel und greift in seinen Rucksack, in dem sich allerlei tierische Kostbarkeiten befinden. „Es lässt sich ein schneien, weil es zehn bis zwanzig Zentimeter unter der Schneedecke deutlich wärmer ist.“ Dennoch gehört das Schneehuhn zu den Verlierern des Klimawandels. Im Winter färbt sich sein Gefieder weiß, doch da immer weniger Schnee fällt, wird es immer sichtbarer für seine Fressfeinde. Zumindest an diesem Februartag jedoch verschmilzt jedes Schneehuhn mit seiner weiß gepuderten Umgebung. Auf dem Rückweg nach Pertisau laufen wir neben der Langlaufloipe entlang, die sich großer Beliebtheit erfreut. Das kleine Hirschgeweih, das zu Anschauungszwecken aus Manuels Rucksack ragt, erregt jedoch mehr Aufmerksamkeit, als unserem Naturparkführer lieb ist. „Das musst du abgeben, das weißt du schon?“, wird der ehemalige Lehrer für Elektrotechnik wiederholt gefragt. Findet man ein abgeworfenes Geweih in der Landschaft, darf man das tatsächlich nicht mitnehmen und behalten, da dies als Wilderei gilt. „Vielleicht sollte ich demnächst ein großes Naturpark-Logo an den Gabler kleben“, bemerkt Manuel mit einem Augenzwinkern und verabschiedet sich von uns.
Der Achensee, der inmitten des Naturparks Karwendel liegt, ist der größte See Tirols. Da er sich auf 8,4 Kilometer Länge zwischen das Karwendel und das Rofangebirge schmiegt, wird er auch gern als „Fjord der Alpen“ bezeichnet. Schon seit einiger Zeit setzt die Region, die aus ganzen fünf Dörfern – Achenkirch, Maurach, Buchau, Pertisau und Eben – besteht, neben dem üblichen Alpinski auf sanfteren Wintersport und lockt seitdem mit 150 Kilometern geräumter Winterwanderwege. Die reichen vom entspannten Flanieren um den so herrlich smaragdgrün bis ultramarinblau funkelnden See bis zur sportlichen Schneeschuhtour in den höheren Lagen. Letztere haben den großen Vorteil, einen traumhaften Blick auf das „Tiroler Meer“, wie der Achensee auch gern genannt wird, zu bieten. So fahren wir am Nachmittag mit der Karwendel-Bergbahn rauf auf den auf knapp 1500 Meter Höhe liegenden Zwölferkopf. Hat man hier das Gewimmel der Skipisten hinter sich gelassen und ist auf den gespurten Winterwanderweg Nummer vier eingebogen, kann man das märchenhafte Winteridyll ganz schnell für sich allein genießen. Unter den Schuhen knirscht dann nur noch der Schnee, sonst ist kein Laut zu vernehmen. In der Nähe des Alpengasthauses Karwendel kreisen einige schwarze Alpendohlen in der Luft – vermutlich hoffen sie darauf, irgendwo ein paar von Besuchern hinterlassene Nahrungsreste stibitzen zu können. Das Karwendelmassiv gehört zu den Nördlichen Kalkalpen. Die schroffen Felsspitzen etwa der Lalidererwände scheinen hier zum Greifen nah. Was wie tote Steinmasse wirkt, ist tatsäch lich zu weit über 90 Prozent biologischen Ursprungs. Vor über 200 Millionen Jahren bildeten sich die Kalkmassen nämlich durch Ablagerung am Meeresgrund. Riff-Lebewesen wie Korallen, Algen und Mikroorganismen türmten über Jahrmillionen die heute weit in den Himmel ragenden Bergriesen auf. Wer hätte gedacht, dass der Meeresgrund auf diese Weise heute Eis und Schnee begegnet?
Am nächsten Morgen wechseln wir die Seeseite und fahren nach Maurach, das uns das Rofangebirge erschließen soll. So schön das schneereiche Winteridyll auch ist, die Lawinenlage will berücksichtigt werden und verhindert die eigentlich geplante Tour ins Gerntal. So schnallen wir die Spikes unter die Bergschuhe und wandern den breiten Forstweg zur Buchauer Alm rauf. Die gut 400 Höhenmeter winden sich in lang gezogenen Kehren hinauf. Immer wieder müssen wir anhalten, bleiben verzückt stehen, weil wieder mal ein Traumblick auf den Achensee die Kinnlade nach unten kippen lässt. An der ein oder an deren Stelle sind die Felswände mit Eiszapfen verziert, die zu filigranen Kunstwerken erstarrt sind. Hin und wie der weichen wir Skifahrern und Rodlern aus, die die Strecke ebenfalls für sich entdeckt haben. Dennoch sind wir auch hier die meiste Zeit völlig allein unterwegs. Kurz vor der Alm kommt uns jedoch ein Wander-Paar entgegen. „Habt ihr uns noch Kaiserschmarrn übrig gelassen?“, fragen wir. „Ja, keine Sorge, ist noch was da“, antwortet der Mann. Seine Frau fügt indes hinzu: „Allerdings hatten wir schon befürchtet, es wäre geschlossen, weil die Fahne gar nicht draußen war. Aber der Wirt hat uns erklärt, dass sie ihm gestohlen wurde.“ Puh, Glück gehabt! Nicht auszudenken, wenn der mühsame Aufstieg nicht belohnt würde! Auf der Terrasse der Jausenstation liegt eine schwarze Labradorhündin wohlig faulenzend in der Sonne. Wir bestellen Spinatknödel, Apfelstrudel und Almdudler. Lassen den Blick schweifen. Ein verdammt schönes Fleckchen Erde, das sich da vor unseren Augen ausbreitet. Winterwandern am Achensee – mei wie schian!
Erleben
MUTIGE VORAm 31. Dezember 2023 ist es wieder so weit: Bereits zum 21. Mal findet in Pertisau das traditionelle Silvesterschwimmen statt – eine etwas andere Art, den Jahreswechsel zu begehen. Aus drei Metern Sprunghöhe geht es in den vier Grad kalten Achensee. Danach gilt es, 25 Meter zu einem im Wasser aufgebauten „Eisberg“ zu schwimmen, an diesem hinaufzuklettern, die Silvesterglocke zu läuten und wieder ans Ufer zu rückzukehren. In der Kategorie Sport lockt ein Preisgeld von insgesamt 1000 Euro für die ersten drei – wobei nicht der oder die Schnellste gewinnt. Stattdessen wird die Durchschnittszeit aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer errechnet. Wer diesem Mittelwert am nächsten kommt, hat gewonnen. Dafür siegen in der Kategorie Fun diejenigen, die sich in den kreativsten Kostümen ins kalte Nass stürzen.
RODELSPASS PUR
Am Achensee stehen zahlreiche Naturrodelbahnen zur Verfügung – von 0,8 bis 4,8 km Länge ist alles dabei. So führt zum Beispiel die Naturrodelbahn am Zwölferkopf mit vielen Kurven und großartigen Ausblicken auf den See hinunter ins Tal nach Pertisau. Wer nicht mit dem Rodel im Schlepptau hinaufstapfen möchte, kann zum Start der Rodelbahn bequem mit der Karwendel-Bergbahn rauffahren. Die Rodelbahn in Achenkirch startet bei der Mittelstation der Hochalmlifte Christlum und kann zu Fuß oder mit dem Sessellift er reicht werden. Ab Mitte Dezember gibt es auf der 3,5 km langen, beleuchteten Strecke jeden Mittwoch einen Rodelabend mit Fleischfondue. Besonders überschaubar ist die 800 Meter lange Naturrodelbahn in Steinberg am Rofan. Dafür kann man allenfalls in einer weichen Schneewehe landen, wenn man die Kurve nicht kriegt.
Genießen
MÖRDERISCHER ACHENSEESeit 2012 verwandelt sich die landschaftliche Schönheit der Region Achensee jedes Jahr im Mai in eine Bühne für ein außergewöhnliches Literaturfestival, die „achensee.literatour“. Vier Tage lang geben sich zeitgenössische deutschsprachige Autoren ein Stelldichein rund um Pertisau und tragen Lesungen aus ihren neuesten Büchern vor. Das Krimi-Genre ist dabei ganz weit vorne und findet seinen Höhepunkt in der traditionellen Krimiwanderung, die stets am Sonntag das Festival beschließt. Zum zehnjährigen Jubiläum der „achensee.literatour“ erschien 2022 eine Anthologie mit acht Achensee-Krimis unter dem Titel „Nur der See sah zu“. Infos und Termine zum nächsten Festival gibt es unter: achensee-literatour.at
DAS HEILSAME ERBE DES MEERES
Vor 180 Millionen Jahren entstand am Meeresboden des riesigen „Ur-Mittelmeeres“ Tethys aus den Ablagerungen abgestorbener Tiere Ölschiefer. Dieser Ölstein wurde bei der Entstehung der Alpen durch eine urgewaltige Eruption aus der Flut emporgedrückt. Im Jahr 1902 entdeckte Martin Albrecht senior aus Pertisau zufällig diesen Ölschiefer am westlichen Ufer des Achensees und später auch im nahe gelegenen Bächental. Seitdem baut die Familie Albrecht – mittlerweile in vierter Generation – den Ölschiefer ab und gewinnt da raus Tiroler Steinöl. Durch seinen hohen Gehalt an natürlich gebundenem Schwefel hat dieses Steinöl eine außerordentlich wohltuende und pflegende Wirkung für den Menschen. Das Öl findet Anwendung in Cremes, Salben, Massageölen, Shampoos, Duschgels. Körperlotionen, Seifen oder Wärmepackungen. Wer sich für das Brennen des Öls interessiert, kann von Juli bis Oktober wöchentlich donnerstags um 9 Uhr morgens eine Wanderung zu den Steinölbrennern ins Bächental unternehmen. Zudem gibt es in Pertisau das Erlebnismuseum Vitalberg, das die Geschichte der Brenner-Familie Albrecht erzählt und die aufwendige Gewinnung des Tiroler Steinöls erläutert. Infos unter: steinoel.at