Zugegeben, es ist ein seltenes Glück. Doch wenn es im flachen Norden mal schneit, sollte man alles stehen und liegen lassen, sich dem Winterzauber umgehend hingeben: Frischer Schnee, der sich auf Ästen und Zweigen häuft; unter den Füßen eine weiße Decke, die alles aufhellt und Geräusche dämpft; jeder Schritt knirscht. Meist bleibt ja nicht viel Zeit, bis der Wind die Flocken hinunterfegt und die weiße Pracht sich in bräunlichen Matsch verwandelt.
ZWISCHEN DEN MEEREN
Doch wohin auf die Schnelle? Wenn der Schnee dann fällt, bringt er das Verkehrschaos meist gleich mit. Es ist also gut, ein lohnenswertes Ziel in der Nähe zu kennen. In Schleswig-Holstein knüpft die Stiftung Naturschutz ein Netz aus wertvollen Biotopen. Oft helfen vierbeinige Rasenmäher, die Artenvielfalt auf diesem Stiftungsland zu bewahren. Sie dabei zu beobachten, beseelt viele Menschen. Hier und dort gewähren Aussichtstürme Einblick, woanders läuft ein Wanderweg sogar mitten über die „Wilden Weiden“. An einigen Wochenenden gibt es geführte Winterwanderungen. Auch vor den Toren von Hamburg, Kiel und Flensburg gibt es Wilde Weiden. Wie das Naturschutzgebiet in den Binnendünen von Nordoe: fünfzig Kilometer nordwestlich von Hamburg, im Süden von Itzehoe. Dicht an der Autobahn und mit dem Zug gut angebunden, bleibt es auch bei Neuschnee gut erreichbar. Mit Glück trifft man Galloways, Schottische Hochlandrinder und Exmoor-Ponys. An harsches, britisches Klima gewöhnt, fressen sie hier auch im Winter, um offene, reich strukturierte Lebensräume zu verteidigen: Nackte Sandflächen, Binnendünen, auf denen Kiefern, lichte Eichengruppen und Heidekraut wachsen, Grasland und feuchte Heidebereiche wechseln einander ab. Es sieht aus, wie eine Allmende-Landschaft aus dem vorletzten Jahrhundert. Sie existiert nur noch, weil ein Truppenübungsplatz Industrialisierungssymptome abwehrte: Die Binnendünen blieben vor Düngung und intensiver Landwirtschaft, vor Aufforstung und Entwässerung verschont. Kalte, dunstfeuchte Luft strömt in die Lungen. Schon nach wenigen Schritten pumpt sie eine ganz andere Energie in den Körper: hebt die Stimmung, schärft die Sinne, lässt die klammen Finger irgendwie egal werden. Eine Allee, deren Geäst sich im Zebramuster hoch über dem Kopf verschränkt, wirkt, als sei sie einem Fantasy-Film entsprungen – wie Tunnel in eine andere Welt. Dahinter öffnet sich eine weite Wiese im trüben Dunst. Der Schnee hellt die Szenerie von unten auf. Halme und vertrocknete Blütenstände, Zaunpfähle und dick verschneite Büsche schauen aus der weißen Decke. So gepolstert würde selbst ein asphaltierter Weg Spaß machen. Gerade im Flachland, wo man öfter mal auf festem Grund tritt, kaschiert die winterliche Schicht solche Problemstellen. Herrlich, wie es bei jedem Schritt leicht quietscht!
TIERE IM SCHNEE
Sogar ein paar Vögel zwitschern noch. Wenn es wärmer wird, flattern hier besonders viele Schmetterlinge. Auch der Goldene Scheckenfalter, der 1991 aus Schleswig-Holstein verschwand. Seine Nahrungspflanzen Teufelsabbiss, Schwarzwurzel und Arnika blühen hier noch, also setzte man gezüchtete Raupen in Nordoe aus. Erfolgreich – ihre Nachfahren fliegen bis heute. Als Schirmart garantiert der Falter, dass hier viele weitere, stark gefährdete Pflanzen und Tieren miteinander leben. Das schaffen sie nur in solch äußerst selten gewordenem Lebensraum wie den Binnendünen. Auf den Bänken am Wegesrand türmt sich eine dicke, jungfräuliche Haube. Die Bäume tragen ein artspezifisches Winterkleid: Auf der Weide haben drei hohe, beieinander stehende Birken den Schnee schon von ihren filigranen Zweigen gewedelt, Eichen spreizen ihre dick beladenen Äste artistisch von sich. In den Kiefernadeln fängt sich der Schnee zu größeren Flecken, vom Muster eher Leopard als Zebra.
Dann, zwischen Kiefernstämmen, tauchen sie auf: Galloways. Sie schmiegen sich aneinander, äugen neugierig herüber. Das Fell kräuselt sich wie bei einem Teddybären. Schwarz, mit einem Rotstich an den Flanken, braun, zwei sogar ganz hell. Wenn eine muht, qualmt Dampf aus dem Maul und hüllt den Kopf für einen Moment ein. Sie schauen eine Weile. Dann trotten sie weiter, wühlen mit der Schnauze im Schnee, rupfen und mampfen. Ein Vollzeit-Job. „Aus Naturschutzsicht ist die Beweidung im Winter ganz besonders wichtig“, erklärt Tierhalterin Nele Andresen, „da gehen sie nämlich an die Sachen, die sie im Sommer verschmähen.“ Zum Beispiel knabbern sie dann junge Triebe und Blätter aufkommen der Birken. Nahrung, die schwieriger zu verdauen ist. Sie machen das nur, weil sie mehr futtern müssen, um die Körpertemperatur zu halten. Und weil es zu dieser Jahreszeit weniger Auswahl gibt. „Im Sommer fressen sie nur morgens mal zwei Stunden und abends den Rest. Dazwischen dösen sie im Schatten oder kühlen sich die Beine in einem der Teiche. Da schaffen sie gar nicht so viel Biomasse“, sagt Andresen. Doch das Ziel in dem Naturschutzgebiet ist, die Fläche offen zu halten. Für den Goldenen Scheckenfalter und die anderen. Frei von geschlossenem Gebüsch oder gar Wald. All das erklärt Nele Andresen bei einem späteren Besuch in den Nordoer Binnendünen. Schon als Kind begleitete sie ihren Vater auf die Weiden. Später ging sie erst einmal weg, studierte Kulturwissenschaften, merkte, dass es sie doch immer wieder zum Thema Natur zog. Inzwischen hält der Betrieb etwa 1300 Galloways an fast 150 verschiedenen Standorten. In Gummistiefeln und gelbem Anorak stapft sie durchs Gras. Über der Schulter schleppt sie einen grünen Sack mit Heu. „Kaaarla Karla Karla Karla – komm, Karla komm Karla Karla“, ruft sie dabei, um die Tiere anzulocken. Die Färsen vom Winter, so heißen geschlechtsreife, weibliche Rinder, die noch nicht gekalbt haben, sind nun schon zum ersten Mal Mama geworden. Mit ihren kleinen Kälbchen und dem Stier weiden sie gerade auf einer anderen, sehr weitläufigen Fläche. „Im Winter freuen sie sich mehr über das Lockfutter“, sagt Andresen. Sie finden das ganze Jahr über genug zu fressen in dem riesigen Gebiet und bei zu viel Füttern würden sie faul, aber das Heu ist wichtig, um Kontakt mit ihnen zu halten. Regelmäßig schaut jemand, ob es allen gut geht. Gerade im Winter rufen regelmäßig besorgte Menschen an und fragen, ob den Tieren warm genug sei. „Nach einer Frostnacht sitzt morgens noch Raureif im Fell“, sagt Nele Andresen, „man denkt zuerst: ‚O Gott, die sind ja kalt‘, dabei bedeutet das ja: Die Körperwärme dringt nicht mal ans äußere Fell. Sie sind in ihrem doppelschichtigen Pelz so gut isoliert, dass der Frost auf dem Rücken bleibt. Daran kann man sich bewusst machen, dass sie total gut ausgestattet sind für Witterungsbedingungen, die wir als extrem empfinden.“
Menschliche Füße, vor allem weibliche, gefrieren leider schon bei knapp über null. Selbst wenn sie in dicken Socken und Wanderschuhen stecken. Also Zeit, sich von dem archaischen Bild der Galloways im Schnee loszureißen und weiterzulaufen. Der Weg führt über einen Weiderost und quert die winterliche Färsenweide. Deren gutmütige Bewohner interessieren sich jetzt wieder ausschließlich für ihre Nahrungsaufnahme. Es geht leicht auf und ab, vorbei an halb vereisten Wasserstellen, Gebüschgruppen und Einzelbäumen. Eines lässt sich nur vermuten unter dem Schnee: der Sand der Binnendünen. Friedliche Stimmung, die sich überträgt. Es fängt schon an zu dämmern – im Winter sind kürzere Touren lang genug. Aber Winterwandern geht auch im platten Land. Extra ausgewiesene Winterwege braucht es dort nicht – selbst unter einer Schneedecke findet sich noch die richtige Spur. Ganz ohne Lawinengefahr!
wandern
ABSTECHER INS MOOR
Südlich an Kremperheide grenzt Krempermoor. Ein rund einstündiger Abstecher führt vom Bahnhof Kremperheide über einen Damm in das Moorgebiet. Je weiter der Spazierweg vordringt, desto nasser wird es rechts und links davon. Wasserlinsen bedecken die kleineren Tümpel, an denen Erlen und Birkenbruchwälder wachsen. Bis in die 1960erJahre angelten die Menschen hier Torf mit einem Kescher aus den Gruben und trockneten ihn in Holzformen. Heute fischen die Mitglieder des Sportanglervereins Itzehoe von den zahlreichen Holzstegen an den größeren Seen.
WINTERLICHE WILDE WEIDEN
Die Stiftung Naturschutz in SchleswigHolstein lädt zu geführten Winterwanderungen auf den „Wilden Weiden“ im Stiftungsland. Sie finden von Januar bis März an ausgewählten Wochenenden statt. Auch im kommenden Winter erkundet eine die Nordoer Binnendünen. Aktuelle Termine finden sich unter „was wir tun“ und dann „Erlebnisraumgestalter“. Auch andere saisonale Höhepunkte wie Froschkonzerte und Naturgenussfestivals stehen dort: stiftungsland.de
wissen
WIDERSTANDSFÄHIGER MINIMALIST
Schon den Römern schmeckte das Fleisch der friedfertigen Kolosse ganz ausgezeichnet. Sie stammen aus dem Kreis Galloway im Südwesten Schottlands. Da Galloways auch bei naturnaher Haltung viel Fleisch von hervorragender Qualität erzeugen, grasen die hornlosen Rinder mit kräuseligem Teddyfell oft in Naturschutzgebieten. Als gute Futterverwerter brauchen sie nicht viel zum Überleben. Sie können gut alleine kalben, werden alt und kommen auch mit rauem Klima klar – perfekt, um das ganze Jahr draußen zu leben.
HALB WILDE DRAUFGÄNGER
Ebenfalls eine der ältesten Rassen ihrer Art und ebenfalls durch ihre Heimat – diesmal Exmoor in Südwestengland – an ruppiges Wetter angepasst sind die wiehernden Landschaftspfleger von Nordoe. Mit stämmigem Körperbau, starken Beinen und kleinen, festen Hufen trotten sie auch in unwegsamem Gelände sicher umher. Die dem Wildpferd sehr ähnliche Rasse gilt als freundlich, ruhig und intelligent. Der vergleichsweise große Kopf rührt aber vom kräftigen Kiefer her, mit dem die Exmoors sogar Äste und Büsche zermalmen. Auch Farne frisst es. Ein domestiziertes Pferd würde den gar nicht vertragen.
EINDRUCKSVOLLE BEHORNT
Auch die dritten im Bunde, Rinder aus dem schottischen Hochland, halten es mit ihrem dicken, wasserabweisenden Wintermantel das ganze Jahr über draußen aus. Sie sind auch an steilen Hängen und im Moor noch trittsicher. Raue Gräser und anderes, weniger nahrhaftes Futter genügt den zotteligen Highlands. Ihre langen, gebogenen Hörner mögen bedrohlich wirken, doch sie zeichnen sich durch ein freundliches Wesen aus. Handling und Transport sind allerdings wegen der Hörner etwas umständlicher als bei den Galloways.
schmecken
GESUNDE ÖKO-STEAKS
Das Fleisch der ganzjährig draußen auf ungedüngten Weiden grasenden Galloways ist von höchster Bioqualität und eine echte Delikatesse. Der Verein Weidelandschaften e. V. vermarktet es überwiegend direkt: im Hofladen in Kropp, zu bestimmten Terminen in den Naturschutzgebieten Hamburg Höltigbaum und Gut Trenthorst bei Plön, in regionalen EdekaMärkten sowie online: galloway-shop.de