Ginster, Weißdorn und Wildrosen blühen in der warmen Jahreszeit auf der Dreiborner Höhe in der Eifel. Als das Dorf Wollseifen noch existierte, haben die Bauern diese Sträucher ausgegraben und dann einfach auf dem Feld liegen gelassen, damit das Gestrüpp im Sommer austrocknen konnte. Im Herbst haben sie es verbrannt und mit der Asche die Felder gedüngt, auf denen Winterroggen wuchs, mit dessen langen Halmen sie wiederum ihre Dächer deckten.
All das beschreibt Anna-Maria Caspari in ihrem neuen Roman „Ginsterhöhe“. Anna-Maria Caspari ist der Künstlername der gebürtigen Kölnerin. Wie viele andere Autorinnen und Autoren auch, schreibt die promovierte Sprachwissenschaftlerin und ehemalige Cheflektorin unter einem Pseudonym. „Es war wie ein Sog, der mich erfasste“, beschreibt Anna-Maria Caspari ihr Gefühl, als sie das erste Mal durch Woll- seifen streifte.
Ein Ort mit tragischer Vergangenheit
Die Tragik des Dorfes wurde ihr sofort bewusst. Da ist die Schwermut, die sich über die grüne Unberührtheit des verlassenen Dorfes gelegt hat, das einmal ein ganz normales Dorf mit Bauernhöfen, Schmiede und Gasthof war. Man muss nicht unbedingt einen Roman schreiben wollen oder eine andere Inspiration an diesem abgeschiedenen Ort suchen, um die Melancholie, die hier in der Luft liegt, zu spüren. Die Region ist eine Erinnerungslandschaft. Schicksale sind darin verwoben.
Vor dem Erscheinen ihres Buches treffe ich die Autorin auf der ehemaligen Ordensburg Vogelsang, die einem noch immer einen Schauer über den Rücken laufen lässt. Zumal, wenn man an ihre Vorgeschichte denkt. Die frühere Ordensburg Vogelsang war eine der drei Ausbildungsstätten, in denen eine Führungselite der Nationalsozialisten herangebildet werden sollte, und ist der zweite wichtige Schauplatz ihrer Geschichte.
Ein Vorbild aus der Eifel
Die Hauptfigur, den Bauern Albert Lintermann, habe sie seit ihrem ersten Dorfbesuch vor Augen, erzählt Caspari. Albert sollte die typischen Charakterzüge der Eifelbauern verkörpern. „Trotz des kargen Bodens bestellen die Bauern dort ihre Felder unverdrossen weiter“, sagt sie, „genau das habe ich auf Albert übertragen.“
Er kommt schwer versehrt aus dem Ersten Weltkrieg nach Hause. Im Schützengraben hat er nicht nur seinen besten Freund, sondern auch sein halbes Gesicht verloren. Kaum einer im Dorf – nicht einmal seine Frau Bertha – will etwas mit ihm zu tun haben. Trotzdem verliert er nicht seinen Lebensmut. Ganz im Gegenteil. Er versucht, den Hof wieder in Gang zu bringen, unterzieht sich schwierigen Gesichtsoperationen und gewinnt schließlich wieder Respekt und Wertschätzung.
Der Untergang eines ganzen Dorfes
„Von Anfang an faszinierte mich die Beschreibung Wollseifens als Wüstung. Ein Ort, der als Ort nicht mehr existiert“, erklärt die Autorin. Bei einer Wüstung erinnern nur noch Urkunden, Mauerreste im Boden oder mündliche Überlieferungen an ein früheres Dasein. Und genau so ist es heute in Wollseifen. Grasbüschel wachsen aus den Ritzen der wenigen Mauerreste, die gerade mal eine Handbreit, wenn überhaupt, über den Boden hinausragen. Gebüsch wuchert an Wegkreuzungen, die früher Straßen waren.
Wollseifen liegt etwa drei Kilometer entfernt von Vogelsang. Das monumentale Ausbildungszentrum der Nazis, die NS-Ordensburg Vogelsang, lag in Blickweite des Dorfes. Noch heute ragt der Bergfried bizarr und mächtig in den Himmel. Die damalige „Herrschaftsarchitektur“ ist immer noch deutlich zu erkennen. Vogelsang war Symbol für das ideologische Staatsziel der Nazis, durch Erziehung und Indoktrination einen „neuen deutschen Menschen“ im Sinne eines „völkischen“ Idealbildes zu formen. Auf 50.000 Quadratmetern Fläche lag der Gebäudekomplex ausgebreitet, ehe der Zweite Weltkrieg die Ambitionen der Nazis stoppte. „Mit dem Bau der Ordensburg erhielt das kleine Eifeldorf eine ungeheure politische Tragweite, und für die Wollseifener bedeutete es den Untergang ihres Dorfes“, sagt Anna-Maria Caspari.
Wandern im Zauber der Natur
Einige Monate bevor ich mich mit Anna-Maria Caspari getroffen habe, bin ich den Weg zwischen Vogelsang und Wollseifen gegangen. Der Weg ist steil und steinig. Die Hochzeit der Ginsterblüte war schon fast vorbei. Auf der Dreiborner Höher überrascht dann die Weite der Landschaft. „Die Natur erschließt sich einem nicht sofort. Es ist keine ausgesprochene liebliche Landschaft, aber eine herbe Schönheit“, beschreibt die Romanautorin ihren Eindruck.
Obwohl ich die Geschichte um Albert Lintermann noch nicht gelesen hatte, drängen sich auf der Wanderung unwillkürlich Gedanken über die nahe Nachbarschaft zwischen Männern, die einen „neuen Herrenmenschen“ schaffen wollten, und Bauern, die gegen die Kargheit des Bodens kämpfen mussten, auf. Wie konnte sie funktionieren? Es muss schwierig gewesen sein. Diese Konflikte und alles, was in der Zeit zwischen 1919 und 1949 passiert ist: Ausgrenzung und Gewalt ebenso wie die Verfolgung der Juden und die Vertreibung aus der Heimat webt Anna-Maria Caspari in ihren Roman „Ginsterhöhe“ hinein, dessen Name auf die überwältigende Ginsterblüte im Frühsommer zurückgeht.
Von der Ordensburg zum Bildungszentrum
Nach dem Krieg war die Freude der Dorfbewohner, sich wieder um Acker und Vieh kümmern zu können, nur von kurzer Dauer. Bereits 1946 erklärte die britische Militärverwaltung das Gebiet zur Sperrzone, und die Dorfbewohner hatten drei Wochen Zeit, ihre Sachen zu packen. Die Ernte durften sie noch einbringen. Besuche waren danach verboten, aber auch sinnlos – es gab nichts mehr zu retten. Die Wollseifener hatten ihre Heimat für immer verloren.
Aber die Geschichte geht weiter. 1950 wurde das Gelände dem belgischen Militär übergeben. Es entstand ein Truppenübungsplatz. Die Ordensburg Vogelsang bekam den neuen Namen „Camp Vogelsang“. 2006 ist dann noch einmal ein besonderes Jahr: Das Gelände wird wieder frei zugänglich. Camp Vogelsang nennt sich nun Vogelsang IP, kurz für Vogelsang Internationaler Platz, und ist heute ein Ausstellungs- und Bildungszentrum. Das öffentliche Interesse groß: Täglich kommen ganze Busladungen mit Besuchern an.
Erbe der Vergangenheit
In der Wüstung Wollseifen ist aber endgültig die Zeit stehengeblieben. Die letzten Zeugen von Camp Vogelsang stehen wie versprengte Fremdkörper in der Natur. Wie nicht fertiggestellte Neubauten ragen fensterlose, weiße Häuser aus der Grassteppe hervor. Sie dienten den belgischen Soldaten als Attrappe bei ihren Häuserkampfübungen. Nur ein Trafohäuschen, Teile der Dorfschule und die ehemalige Pfarrkirche St. Rochus, die mit dem Engagement ehemaliger Wollseifener rudimentär wiederhergestellt wurde, erinnern an das Eifeldorf Wollseifen.
Die 60 Jahre lange Sperrung hat auch eine gute Seite. Das Gebiet ist heute ein Teil des Nationalparks Eifel. Von der Dreiborner Höhe – der Hochfläche, auf der die Häuser von Wollseifen standen – ist der Blick besonders schön. Wildsträucher und Wiesen wechseln sich ab. Bedrohte Tier- und Pflanzenarten haben sich angesiedelt. Es ist ein Stück unberührte Natur. Und ein Wunsch der Wollseifener hat sich auch erfüllt. Ihr altes Dorf ist ein stiller Ort zum Nachdenken inmitten des Nationalparks Eifel. Das Ensemble, das die Kirchenruine mit der Straßenzeile der zugemauerten Übungsgebäude bildet, ist zum Symbol für Vertreibung geworden.
Wo alles begann
Vogelsang IP (Internationaler Platz): Besucherzentrum, Ausstellungen und Shop sind täglich von 10 bis 17 geöffnet. Navigation: Vogelsang IP, 53937 Schleiden (Eifel), www.vogelsang-ip.de. Das Gelände ist jederzeit frei zugänglich. Die ehemalige Ordensburg ist eines der größten Bauwerke des Nationalsozialismus und liegt heute eingebettet in die Wildnis des Nationalparks Eifel. Nicht nur mit Ausstellungen, sondern auch mit Tagungen und Veranstaltungen ist wieder Leben auf Vogelsang. Die Themen der zwei dauerhaften Ausstellungen sind: „Wildnis(t)räume“ und „Herrenrasse“. Die Dauerausstellung „Wildnis(t)räume“ stellt auf 2.000 Quadratmetern den Nationalpark Eifel mit spannenden interaktiven Elementen vor. Die Ausstellung „Herrenrasse“ wirft den Blick auf die jungen Männer, die damals für eine nationalsozialistische Ausbildung ausgewählt wurden.
Wollseifen: Seit 2006 ist Wollseifen wieder für die Öffentlichkeit zugänglich und auch ein beliebtes Wanderziel. In der Dorfschule erzählen Bilddokumente die Geschichte des ehemaligen Eifeldorfes. Die kleine Ausstellung ist permanent geöffnet. Die halbwegs wieder aufgebaute Kirche St. Rochus dient heute als ein „Ort der Stille“.
Ginsterblüte: Jedes Jahr, wenn Ende Mai/Anfang Juni die Ginstersträucher blühen und die Dreiborner Hochfläche ein gelbes Blütenmeer wogt, findet das Ginsterblütenfest statt. Dieses Jahr ist das Ginsterblütenfest am 20. und 21. Mai. www.eifel.de
Roman „Ginsterhöhe“: Er ist Teil einer Trilogie – die ungewöhnlicherweise mit dem Mittelteil beginnt. Im Spätsommer erscheint der Band „Perlenbach“, der zeitlich vorgelagert ist. „Perlenbach“ spielt in Monschau und in Wollseifen, eine der Hauptfiguren ist Albert Lintermanns Vater. Der dritte Band behandelt die Zeit von 1950 bis 1985 und erzählt, was mit Albert und seinen Freunden nach der Zwangsräumung aus Wollseifen in Köln und der Zülpicher Börde passiert ist.
wandern
Wandern entlang von Geschichte und Wildnis
Rundwanderweg, Länge 6,5 km, Dauer ca. 2,5 Stunden: Start ist am Vogelsang IP, weiter geht es über die Dreiborner Hochfläche zur Wüstung Wollseifen. Dann führt der Weg über den Wildnis-Trail durch das Neffgesbachtal zurück zu Vogelsang IP. Der Einstieg in den Rundwanderweg ist auch vom Parkplatz Walberhof möglich. Man kann den Weg kürzen und nur nach Wollseifen wandern und wieder zurück. Dauer ca. 40 Minuten.
Rundwanderweg, Länge 13 km, Dauer ca. 4 Stunden: Hier geht es von Vogelsang IP hinunter zum Urftsee und entlang der Urftstaumauer. Über den Wildnis-Trail gelangt man zur Wüstung Wollseifen und zurück nach Vogelsang IP.
Information: www.wildnis-trail.de, www.nationalpark-eifel.de