Wir beugen uns über die Speisekarte der „Windbeutelgräfin“ im historischen Mühlbauernhof von Ruhpolding. Der Moment der Entscheidung ist gekommen. Wer hier nicht mindestens einen Windbeutel gegessen hat, der war auch nicht richtig in Ruhpolding. Mehr als einen schafft allerdings ein Normalsterblicher auch nicht, die süßen Leckereien sind in der Windbeutelgräfin unanständig groß, ein Gebirge geradezu, im Schnitt 13 Zentimeter hoch, also mehr als doppelt so groß wie alles, was ich als Steppke verzehrt habe, damals, mit kurzen Hosen im Harz.
Einen also. Nur welchen? Den Klassiker mit Schlagrahm und Sauerkirschen oder Erdbeeren? Oder die herzhafte Variante mit Lachs? Oder doch gleich den „mit Schlagrahm, dreierlei Früchten, dreierlei Eissorten und dreierlei Likören“? Er steht am Ende der Speisekarte. Dieser „Bär von Ruhpolding“ heißt so, weil 1835 ganz in der Nähe der letzte deutsche Bär erlegt wurde. Am besten kommt man mit einer Gruppe, dann kann man die Teller hin- und herschieben und mehrere Windbeutel testen.
Das kulinarische Geheimnis hinter den Windbeuteln
Es ist 16 Uhr durch und Helmut Stemmer hat einen Moment Zeit, endlich. Sein Arbeitstag beginnt spätestens morgens um halb sechs, dann steht er am Backofen und produziert die ersten Windbeutel, ein paar Hundert werden es immer im Laufe eines Tages. Stemmer hat Koch und Restaurantfachmann gelernt, wobei er als Koch eigentlich gar nicht richtig gefordert ist, jedenfalls nicht beim Windbeutel.
Die Herstellung von Windbeuteln ist im Grunde eine einfache Angelegenheit: Erst werden Wasser, Butter und Salz zum Kochen gebracht, dann wird Mehl untergerührt. Der zähe Teig wird mit einem Kochlöffel immer wieder vom heißen Topfboden „abgebrannt“, also gelöst, und schließlich auf gebutterte Backbleche aufgetragen. Alles Handarbeit, versichert der 58-Jährige, bei ihm wird nicht gespritzt, kein Windbeutel gleicht dem anderen. Der Brandteig ist „eigentlich relativ geschmacklos“, sagt Stemmer. Das ändert sich erst mit den Zutaten, also Sahne, Eis und Früchten. Am Ende kommt bei Helmut Stemmer noch ein Schwanenhals aus Spezialkarton obendrauf, nur so wird aus einem gewöhnlichen Windbeutel ein „Lohengrin-Windbeutel“, das Markenzeichen des Hauses. Auf jedem Schwanenhals steht eine Nummer, Stemmer weiß also immer, wie viele Windbeutel gegessen werden, und muss nicht mitzählen.
Ein Windbeutel mit prominenter Historie
Der erste „Lohengrin-Windbeutel“ wurde am 13. Februar 1983 serviert, dem 100. Todestag von Richard Wagner, dem Komponisten der Oper Lohengrin. Den Windbeutel mit der Nummer 500.000 ließ sich Kammersänger Rudolf Schock munden, der Sänger und Schauspieler Chris Howland verspeiste Nummer 1.000.000, Schauspieler Klausjürgen Wussow Nummer 2.000.000 und Fernsehkoch Johann Lafer Nummer 2.300.000.
Auch Kevin Kühnert, der stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD, war schon da, sie haben ein „bisserl geratscht“, erzählt Stemmer. Kühnert wollte Ski fahren und hat einen Schlenker über Ruhpolding gemacht, früher war er immer mit seinen Eltern hier, ein Erinnerungs-Windbeutel mit Ananas musste es sein. „Und ich mache kein Foto“, ärgert sich Stemmer noch heute.
Kampf um den Jubiläums-Windbeutel
Mein Windbeutel hat die Nummer 2.989.900, viel fehlt also nicht mehr bis zum Dreimillionsten. Die Influencer warten bereits, sagt Stemmer. Die Marke wird bald fallen, das kann er sich ausrechnen, immerhin werden im Jahr so um die 65.000 Windbeutel serviert. Der Renner ist der mit Sauerkirschen, auch der mit Heidelbeeren geht gut. Es sei denn, es gibt frische Erdbeeren, dann ist diese Variante unangefochten die Nummer eins, jedenfalls für sechs bis acht Wochen.
In der Backstube sind sie froh, wenn diese Zeit vorbei ist. Bis zu zehn Kisten Erdbeeren müssen dann am Tag gereinigt und gewaschen werden, ganz vorsichtig. Stemmer kommt ins Plaudern und erzählt noch mal, wie alles anfing. Wie es 1949 Richardis von Somnitz, eine adlige Flüchtlingsfrau aus Pommern, auf den Mühlbauernhof verschlug. Wie sie mit ihrem ersten Café „erbärmlich gescheitert“ ist. Wie sie es dann bei ihrem zweiten Anlauf mit Milch und Buttermilch versuchte, bis ihr eines Tages ein wohlmeinender Gast zeigte, wie Windbeutel zubereitet werden. Wie sie dabei allerdings viel zu viel Teig auf das Backblech gab, „das sind solche Dinger geworden“, sagt Stemmer und macht eine ausladende Handbewegung. „Da war der Spott in Ruhpolding groß“ und bald darauf nur noch von der „Windbeutelgräfin“ die Rede. Heute spottet niemand mehr. Das Haus wurde zum „bekanntesten deutschen Windbeutel-Lokal“ („Die Zeit“), auch über den Eisernen Vorhang hinweg. „Als die Mauer fiel, da kamen morgens um 10 Uhr die ersten Busse“, sagt Stemmer.
Geschichtsträchtiges Haus im Chiemgau
Wir drehen noch eine Runde durch das Haus, es steht unter Denkmalschutz. Der Marmor über dem Eingang ist von der gleichen Sorte, die auch König Ludwig II. für Schloss Nymphenburg verwendet hat, nur nicht poliert. Die Malereien an der Hauptfassade stammen von italienischen Künstlern, die auch im Salzburger Dom aktiv waren – Ruhpolding gehörte einst zum Erzbistum Salzburg, die Bischöfe verbrachten hier ihre Sommerfrische. Ein angemessenes Ambiente auch für die französischen Offiziere, die hier in der napoleonischen Zeit einquartiert waren und ihren Feldzug gegen die Tiroler unter Andreas Hofer planten.
Auch drinnen atmet das Haus Geschichte. Im „König Ludwig Zimmer“ trafen sich einst die Fans des legendären Bayernkönigs, doch die sind inzwischen „ausgestorben“, sagt Stemmer. Die Fans von Fritz Fischer dagegen wuchten ihre Bierkrüge hier immer noch in die Höhe, umrahmt von unzähligen Pokalen des berühmten Biathleten. Die Folgen übermäßigen Alkoholkonsums kann man in der „Ruhpoldinger Bauernstube“ studieren – ein Porträt zeigt einen angeschickerten Mühlbauern. Wenn das Wetter es zulässt, sitzen die meisten Gäste auf der Terrasse. Wer kann, sollte nicht unbedingt am Wochenende kommen, schon gar nicht zur Kaffeezeit, dann ist draußen keiner der rund 150 Plätze frei, ohne Reservierung geht gar nichts. Ausgehungerte Windbeutel-Fans sollten ein wenig Zeit mitbringen: Wer drei schafft, bekommt den vierten und alle weiteren umsonst. Den Rekord hält ein gewisser Max Smorodin aus Niederbayern: Am 10. August 2019 hat er im Verlauf mehrerer Stunden neun Windbeutel vertilgt. Es könnte ein Rekord für die Ewigkeit sein.
fühlen
Weitsee, Mittersee und Lödensee bilden zusammen das Dreiseengebiet („Klein Kanada“), das sich zwischen Ruhpolding und Reit im Winkl erstreckt. Die Seen gelten als die wärmsten bayerischen Gebirgsseen, noch dazu ist das Wasser ausgesprochen sauber. Das Baden ist an ausgewiesenen Stellen erlaubt und ab Mai oder Juni möglich. Im August liegt die Wassertemperatur bei angenehmen 24 °C. Und weil die Seen im Naturschutzgebiet „Östliche Chiemgauer Alpen“ liegen, verstellen auch keine Boote oder Surfer den Blick auf umliegende Berge wie Gurnwandkopf und Dürrnbachhorn.
sehen
In der Wintersport-Arena von Ruhpolding ist fast immer Betrieb. Im Winter werden hier Biathlon-Weltcups und -Weltmeisterschaften ausgetragen, im Sommer kann man dem hoffnungsvollen Nachwuchs auf seinen rollenden Brettern zuschauen. Führungen erlauben einen Blick hinter die Kulissen. Längs der Zufahrt erinnern Infotafeln an legendäre Biathlon-Größen wie Peter Angerer, Fritz Fischer oder Magdalena Neuner.
wandern
Auf zur Röthelmoosalm
Wir starten in Urschlau (Wanderparkplatz/„Dorflinie“ 9532 ab Ruhpolding) und folgen dem Weg an der Urschlauer Ache. Auf zweieinhalb Kilometern gewinnen wir knapp 150 Meter an Höhe, dann stehen wir an einer scharfen Linkskurve, vor uns die Röthelmoos-Schlucht mit Wasserfall. Nur noch wenige Hundert Meter und wir sind auf der Röthelmoosalm. Hier empfiehlt sich eine Brotzeit auf der Langerbauer Alm oder der Dandlalm. Danach geht es durch das ausgesprochen reizvolle Wappbachtal hinab bis zum Weitsee und von dort mit dem RVO-Bus 9506 zurück nach Ruhpolding. Der Weg hat eine Länge von rund sieben Kilometern.