Planken aus Lärche und Douglasie bekleiden die Skulptur. Sonne und Regen werden mit den Jahren Spuren daran hinterlassen, ihr Gesicht verändern. Doch die klare, kubische Form des Stahlkörpers wird auch dann noch von Weitem erkennbar strahlen. Am Erbeskopf, mit 816 Metern höchster Berg von Rheinland-Pfalz, ragt das Kunstwerk 16 Meter auf. Durch seine Mitte schiebt sich ein Steg – weit über den Abhang hinaus. Dirk Paul schreitet auf das Panorama zu. Unter seinen Füßen vibriert die Plattform von „Windklang“ sanft. Wind pfeift ihm entgegen. Ganz vorn kann er gerade noch seinen schwarzen Rangerhut festhalten und verhindern, dass dieser über die Brüstung des Hunsrück-Wahrzeichens segelt. Hinter der Skipiste entrollt sich ein Panorama aus Kornfeldern und Waldflecken, über denen sich Windräder drehen. Bis zum Horizont, wo die Höhen von Mosel und Eifel verschmelzen. Wandel prägt den Gipfel und seine Aussichtswarten: Einen ersten hölzernen Ausguck verbesserte ein 24 Meter hoher Steinturm. Diesen stockte man im Zweiten Weltkrieg auf, installierte militärische Signalanlagen. Bis US-Truppen den Erbeskopf besetzten, zu einem wichtigen NATO-Stützpunkt ausbauten, von dort den Flugverkehr bis in die Sowjetunion beobachteten. Dabei war der Turm im Weg, wurde gesprengt. Der elf Meter hohe, hölzerne Erbeskopfturm ersetzte ihn außerhalb des Sperrgebiets. Seit Ende des Kalten Kriegs betreibt die Bundeswehr die Radaranlage, 2004 verschwand der Stacheldraht, und seit 2011 hübscht ein Skulpturenweg das Gipfelplateau auf, mit dem begehbaren Windklang als buchstäblichem Höhepunkt auf dem Berg. Nun erobern ihn wieder Wanderlustige. Entweder auf dem Saar Hunsrück-Steig, der auf über 400 Kilometern Perl an der Mosel mit Boppard am Rhein verbindet. Oder mit der Traumschleife „Gipfelrauschen“, einem zertifizierten Premiumweg, den phasenweise Düsenjets mit Gipfeldröhnen beschallen. Die 7,5-Kilometer-Runde führt an übermannshohen Wurzeltellern von Fichten vorbei, die ein Sturm ausgehebelt hat, und ist gut in einem halben Tag zu schaffen. Beide Wege fallen förmlich vom Erbeskopf über die breite, kahle Schneise hinunter zum Hunsrückhaus, einem von drei Nationalpark-Toren. Davor schart Dirk Paul an einer großen Holztafel Menschen um sich. Bevor diese ihn auf die Gipfeltour begleiten, zeichnet er mit seinem Finger auf der Landkarte den Umriss des Nationalparks Hunsrück-Hochwald nach. An der Schnittstelle von Saarland und Rheinland-Pfalz zeigt das Großschutzgebiet von Südwesten nach Nordosten, erinnert dabei eine E-Gitarre. Wie ein Schalloch pflanzt sich das Dörfchen Börfink hinein, eine der Rodungsinseln. „Überwiegend haben wir auf den Hunsrück-Hochlagen Wald“, sagt Paul. Wie die anderen Lebewesen dort weiß er sich seiner Umgebung anzupassen: Als Deutschlands jüngster Nationalpark 2015 gegründet wurde, hatte er schon umgeschult: vom Holzhauer zum Ranger. Fast 45 Jahre arbeitet der gelernte Forstwirt schon hier „auf dem Ecken“. Schmiss er früher die Motorsäge an, um damit Bäume zu fällen, schaut er ihnen jetzt beim Wachsen zu. Er musste umdenken: Totholz im Wald nicht als entgangenen Geldsegen, sondern als wertvollen Lebensraum betrachten. In Wanderschuhen, grauer Hose und kurzärmeligem Hemd läuft Paul los, am Schild mit der Eule vorbei in den Nationalpark. „Hier ist das Naturwaldreservat Gottlob“, sagt er, „seit 1983 wird es nicht mehr bewirtschaftet. Da kann man schon grob erkennen, wie der Urwald von morgen aussieht.“
ZU KARG FÜR FORSTWIRTSCHAFT
Auch an anderen Stellen im Nationalpark wuchert es schon länger herrlich ungeordnet. Etwa am Springenkopf auf der Traumschleife „Gipfelrauschen“, oder ganz im Westen auf dem Kamm der Dollberge. Nahe des saarländischen Nationalpark-Tors bei Otzenhausen klettert die Dollbergschleife über die gigantische, 10 Meter hohe und 40 Meter breite Steinhalde des Keltischen Ringwalls. Von der Kuppe, auf der ein keltischer Treverer-Stamm über 400 Jahre lebte, spurt der Premium-Rundweg gemeinsam mit dem Saar-Hunsrück-Steig an dick bemoosten, kreuz und quer liegenden Stämmen vorbei. Selbst manchen Zunderschwamm, der an den zackig abgebrochenen Baumstümpfen haftet, überdeckt ein zottiger, grüner Teppich. Vor einer Buche, die eine erwachsene Person mit ihren Armen noch umschließen kann, bleibt Dirk Paul stehen. „Die ist bestimmt 200 Jahre alt, die wird auch nicht mehr dicker“, sagt er, „wir sind arme Hunsrücker, genauso ist auch der Boden. Wenn man hier ein bisschen Humus runterschert, bist du direkt auf’m Fels.“ Taunusquarzit. Neben kargen Böden fordert auch noch kaltes Klima die Pflanzen. Hier oben ist die Vegetationszeit sechs, sieben Wochen kürzer als unten an der Mosel. Zu wenig für Holz, das sich zum Bauen oder für Möbel eignet. Genug für Naturwald. An einer tellerebenen Stelle hockt sich der Ranger hin, gräbt ein wenig und zieht ein Stück Holzkohle aus dem Waldboden. „Die ist 200, 300 Jahre alt“, sagt er. Er zeigt auf einem Bild, wie viele solcher Holzkohlenmeiler sich damals hier in den Wald säten. Man brauchte die Energie, um Eisen zu verhütten. „Bis die Preußen sagten: Jetzt ist aber Schluss. Dann kam die Preußenfichte. Der Hunsrück war nahezu entwaldet, und die Fichte wächst ja schneller. Sie steht jetzt hier in dritter Generation.“ Wenn sie denn dem Buchdrucker trotzt. Auf der anderen Seite des Weges holte der Harvester gestern 600 Bäume raus. „Hier in der 500-Meter- Randzone müssen wir Käferbäume entnehmen. Damit er nicht da rüberfliegt und Schäden verursacht“, sagt der Ranger, zeigt dabei auf ein Stück Wirtschaftswald. Hat der Borkenkäfer den Baum schon verlassen, bleibt die Fichte stehen. „Von uns aus ist das ja kein Schaden, gell, da kann jetzt der Specht weitermachen“, sagt er und scherzt: „Wir henn so viele Käfer, unser Specht kann schon gar nicht mehr fliegen.“ Auch mit vollem Bauch hämmert er im ganzen Nationalpark überaus eifrig, ist auf jeder Wanderung zu hören. Besiedeln Pilze das stehende Totholz, knickt es irgendwann um, modert im Liegen weiter. Tiefer im Nationalpark, jenseits der 500 Meter, formieren sich die sogenannten Dürrständer stellenweise zu gespenstischen Gruppen. Manche sehen aus wie abgespannte Schirme. Schlaff hängt das kahle Geäst, verflechtet sich zu filigranen Kunstwerken.
SCHWÄMME AN DEN HÄNGEN
Wo der Borkenkäfer die Fichten nicht erledigt, helfen menschliche Hände nach. Zumindest an den vielen kleinen, besonderen Moorstandorten, den Hangbrüchern. Oben am Kamm ist der Taunusquarzit mitunter meterdick zu Gesteinsschutt verwittert, den Rosselhalden. Regen versickert dort rasch. Weiter unten gibt es stauende Lehmschichten. Darüber tritt das Wasser an flacheren Hangpartien und in Mulden wieder aus. Sumpfige Quellmoore entstehen, in denen ursprünglich Bruchwälder aus Moorbirken und Erlen stockten. Auf der Traumschleife Börfinker Ochsentour umwuchert Adlerfarn den Holzsteg, der am oberen Moorrand trockenen Fußes durch das Ochsenbruch lenkt. Hangabwärts fällt der Blick über grüne Weite, in der zwischen den Gräsern hier und da Bäume aufkommen. Der Saar-Hunsrück-Steig verbindet von der Börfinker Ochsentour in das Naturschutzgebiet, wo sich Erlenstämme im geheimnisvoll dunklen Wasser spiegeln. Der komfortable Inseltour, eine offene Führung, die Dirk Paul und seine Rangerkollegen in dem Weiler am auslaufenden Südhang des Erbeskopfs anbieten. Dann laufen sie auch an den mageren Borstgrasrasen vorbei. Im Juni schaukeln die goldgelben Blütenstrahlen der Echten Arnika über den Halmen von Borstgras und Binsen, die im Spätsommer schon recht trocken aussehen. Eine wollig behaart Wildbiene schwirrt umher, steckt ihr Köpfchen in die kleinen, vio letten Blüten des Heidekrauts am Rand der ungedüngten Wiese. Ein Standort, den es so kaum noch gibt. Mit Teufelsabbiss und Wald-Läusekraut wachsen weitere Rote- Liste-Arten neben der Heilpflanze Arnika. Sie ziehen Raritäten an, etwa den Lilagold-Feuerfalter, Vögel wie Neuntöter, Braunund Schwarzkehlchen. Eine außergewöhnliche Artenvielfalt, die die Region zum „Hotspot für biologische Vielfalt“ macht. Dabei spielt natürlich auch das Wappentier des Nationalparks eine Rolle: die Wildkatze. Am östlichen Nationalpark-Tor versteckt sich unterhalb der Wildenburg ein Exemplar unter einem Himbeerstrauch.
Normalerweise bekommen Wandernde die Tiere mit dem dunklen Rückenstrich, der sich bis zur stumpfen Spitze des buschigen, schwarz geringelten Schweifs zieht, nicht zu Gesicht. Die Einzelgänger sind nachtaktiv und äußerst scheu. Unterhalb des begehbaren Steinturms der Wildenburg liegt ein Wildfreigehege. Darin füttert Tierpfleger Florian Koch ein Exemplar. „Sie ist vor ein Auto gerannt“, sagt er, „der Unterkiefer wird nicht mehr.“ Draußen in freier Wildbahn, wo sie lebende Tiere jagen müsste, würde sie damit nur ein paar Wochen überleben. Koch wirft ein tiefgefrorenes Küken hinter den Maschendrahtzaun. Die Katze sitzt im Gebüsch, lauert. Plötzlich schießt sie hervor, schnappt die Beute, verschwindet. Blitzschnell. „Sie reagiert relativ entspannt auf Menschen. Sonst könnte man sie gar nicht im Gehege halten“, sagt Koch. „Sie kommt, holt sich ihr Futter. Aber wir werden niemals beste Freunde.“ Schon in den eingezäunten 150 Quadratmetern, die die Wildkatze bewohnt, ist sie kaum zu entdecken. Einleuchtend, dass sie uns in ihren 80 bis 100 Hektar großen Territorien verborgen bleibt.
WANDERSOCKEN-PARFÜM
Anja Schneider holt sie ein wenig ans Licht. Im Wald nahe der Wildenburg hockt die Wildtierökologin in grüner Nationalparkweste und Jeans neben einem Pflock. Sie schiebt ein Plastikröhrchen in das Loch, das extra dafür hineingebohrt wurde. „Darin ist Baldrianessenz“, sagt sie, „das ist wie Parfum, in der Ranzzeit lockt es Kuder und Katze an.“ Für menschliche Nasen riecht der Inhalt eher nach alter, mehrfach nass gewordener Wandersocke. Doch die Katzen kommen und reiben sich an dem Pfahl. Den hat Anja Schneider vorher angeraut, damit Haare hängen bleiben. Diese sammelt das Rangerteam ein. Schneider wählt aus, was nach Wildkatze aussieht, und schickt sie zum Gentest. Wir wussten zwar, dass hier ein Hotspot der Wildkatze ist, aber richtige Daten gab es auf der Fläche des Nationalparks nicht“, sagt die junge Wildtierökologin. Sie hat ein Monitoring aufgebaut, eine systematische, fortlaufende Beobachtung für das Tier, das hierzulande unter Naturschutz steht. Auf dem Lockstock neben ihr steht eine „145/2“, insgesamt verteilen sich 265 davon gleichmäßig über den Nationalpark. Die Laborergebnisse bescheinigen 100 verschiedene Wildkatzen. Wer auf dem Saar-Hunsrück-Steig an der Wildenburg vorbei durch die wilde Felslandschaft am Kamm zur Mörrschieder Burr wandert oder über die Rosselhalde zur Traumscheife Kirschweiler Festung absteigt, entdeckt auf einmal überall gute Wildkatzenverstecke: an den riesigen Blockschuttfeldern, Höhlen in mächtigen Stämmen, unter Ästen mit trockenem Laub. Wie die Planken an der Windklang-Skulptur wird auch der Nationalpark beständig sein Gesicht verändern. Doch eines wird dabei immer deutlicher sichtbar: Hier wächst Wildnis.
ankommen
NATIONALPARK-TORE
Drei Nationalpark-Tore bieten einen runden Einstieg, um den lang gestreckten Nationalpark Hunsrück-Hochwald (nlphh.de) zu erkunden.
Mitte:
Das Nationalpark-Tor Erbeskopf fokussiert mit der Ausstellung im Hunsrückhaus unterhalb der Windklang-Skulptur auf die Themen Wald und Moor. Café (cafe-hunsrueckhaus.de), regelmäßige Führungen, Außenausstellung, Sommerrodelbahn und Hochseilgarten schaffen ein familienfreundliches Angebot: Am Erbeskopf, 54426 Hilscheid, Tel. 06504/778
Im Westen:
Am Fuß des Dollbergs, über dessen Hang sich der gigantische Keltische Ringwall Otzenhausen zieht, liegt das Nationalpark-Tor Keltenpark. Die Ausstellung (Eröffnung Ende April) und nebenan das Keltendorf (keltenpark-otzenhausen.de) veranschaulichen, wie die Kelten hier früher lebten.
Auch ein Café soll es geben (cafe-keltenpark.de): Ringwallstraße 80, 66620 Nonnweiler
Im Osten:
Zwischen Kirschweiler und Kempfeld erhebt sich die Ruine Wildenburg mit dem gleichnamigen Wildfreigehege. Dieses wird erneuert und um Spiel- und Picknickbereiche erweitert am 1. Mai wiedereröffnet. Das Nationalpark-Tor Wildenburg entsteht noch: Wildenburger Straße 22, 55758 Kempfeld
wandern
SAAR-HUNSRÜCK-STEIG
Vier Etappen des 410 Kilometer langen Weitwanderwegs durchqueren den Nationalpark Hunsrück-Hochwald von West nach Ost. Etappe 9 startet in Nonnweiler, Etappe 12 endet nach knapp 72 Kilometern in Idar-Oberstein. Es geht über Keltischen Ringwall, Erbeskopf und Wildenburg, durch Buchenwälder und Hangmoore, vorbei an Rosselhalden und Arnikawiesen. Etwa anderthalb Kilometer lange Zubringerwege leiten in die offiziellen Etappenziele nach Börfink/Einschiederhof, Morbach und Kempfeld: saar-hunsrueck-steig.de
Wer lieber autark mit Zelt, Schlafsack und Verpflegung auf dem Rücken unterwegs ist, findet direkt am Weg drei Trekkingplattformen mit Tisch und Komposttoilette: das Keltenlager kurz hinter dem Ringwall Otzenhausen, etwa vier Kilometer vor dem Erbeskopf das Drachenlager, und Camp Wolfsheulen bei der Wildenburg. Buchbar von April bis Oktober auf: naheland.net
RUNDWANDERWEGE
Außer der vorgestellten Traumschleife „Gipfelrauschen“ am Erbeskopf (siehe Wandertipp Seite 93) docken im Nationalpark noch fünf weitere der Premiumwege an den Saar-Hunsrück-Steig. Von West nach Ost sind das bei Nonnweiler die Traumschleifen „Hubertusrunde“ (9,5 km) und „Dollbergschleife“ (11,2 km), bei Börfink die „Börfinker Ochsentour“ (10 km) und der „Trauntal-Höhenweg“ (12,4 km, aktuell gesperrt) sowie nahe der Wildenburg „Kirschweiler Festung“ (9,1 km).
erkunden
MIT RANGER
Von der Gipfeltour bis zur barrierefreien Inselwanderung veranstaltet der Nationalpark regelmäßig offene Führungen. Sie starten an Nationalpark-Toren und Wanderparkplätzen. Kalender für Ranger- und Erlebnistouren: nlphh.de unter „Angebote“
AUF EIGENE FAUST
Die App „Nationalpark Hunsrück-Hochwald“ begleitet rund um die Uhr auf individuellen Wanderungen. Die digitalen Touren am besten vorab laden, dann informieren unterwegs Ranger per Video über die Natur am Weg.
KURZ BELICHTET
Im Wissensportal des Nationalparks (nlphh.de) verraten Bilder der Wildkameras, wer außer Wildkatzen noch so durch den Wald schleicht.