Nach tagelangem Regen schiebt Hans Plattner eine Schubkarre über die aufgeweichte Watschiger Alm. Zu der Stelle am Bach, wo es einen „ganzen Platschen“, so nennt er das Material eines kleinen Erdrutsches, angeschwemmt hat. Er lädt ihn auf und verpflanzt den Brocken in seinen Garten. „Da war alles voll Wulfenia. Man darf sie ja nicht ausgraben. Aber im Bachbett wäre sie kaputtgegangen“, sagt der Hotelpionier vom Nassfeld, als er einige Jahre später daran zurückdenkt. „Sie hat aber nicht geblüht, ist nicht gewachsen“, erinnert er sich, „da hab ich mich zu den Wulfenia auf die Weide gehockt und bläulich schimmernde Steine entdeckt.“ Davon nahm er einige mit und legte sie um das Beet. Da fing „seine“ Wulfenia an zu blühen.
Kräftig blau, mit leichtem Stich ins Lila. Dieses Jahr war sie früh dran, nur noch ein paar zerzauste der kleinen, trichterförmigen Blüten hängen dran. Wulfenia carinthiaca hat sich sogar schon ausgesät. Vor Plattners Garten, wo bunte Blütenkegel von gleich vier Orchideenarten im Gras strotzen, wo der Blick über saftig grüne Wiesen zur Watschiger Alm gleitet. Darüber wacht der Gartnerkofel.
ZÄHER ALS EIN MAMMUT
Unter seinem nackten Haupt aus Schlerndolomit wächst Wulfenia. Ein Weltstar. Eine der seltensten Pflanzen dieser Erde, denn sie gedeiht ausschließlich hier. Lediglich ein paar enge Verwandte stehen noch an begrenzten Flecken im Himalaya und in Montenegro. Sie stammt noch aus der Ära vor den Eiszeiten, muss irgendwo zwischen all den Gletschern überlebt haben und breitete sich danach wieder aus. Aber eben nur in einem Zipfel der Karnischen Alpen: auf der Sonnenalpe Nassfeld, zu Füßen des Gartnerkofels. Dieses winzige Areal kreuzt der Karnische Höhenweg (KHW). Eine Hüttentour, die auf 150 Kilometern die Karnischen Alpen durchquert, zwischen Österreich und Italien pendelt. Ein riesiger Geopark, in dem 450 Millionen Jahren Erdgeschichte aufblättern – nirgends sonst in den Alpen illustrieren so viele verschiedene Fossilien die Zeit, als im Erdaltertum das Leben explodierte. Fast jeder Berg sieht anders aus, der KHW kurvt durch eine Galerie der Gesteine. Im westlichen, hochalpinen Abschnitt zwischen Sillian und Plöckenpass nutzt er teils alte Soldatensteige. Der Kamm war umkämpft im Ersten Weltkrieg – Bunker wurden in den Fels gemeißelt, Schützengräben ausgehoben, Stollen gegraben. Als Europa nach dem Zweiten Weltkrieg zusammenwuchs, reparierten Italiener wie Österreicher zerstörte Wegabschnitte und vereinten sie zum KHW. Gemäß ihrem Motto „Wege, die uns einst trennten, sollen uns heute verbinden“ bekam der den Beinamen Friedensweg.
ZWEI GESICHTER: ALPIN UND SANFT
Davon, wie sinnlos es ist, Konflikte kriegerisch lösen zu wollen, erzählt ein Freilichtmuseum an markanten Geländepunkten um den damals strategisch wichtigen Plöckenpass. Er liegt etwa in der Mitte des Weitwanderwegs, so nutzen viele das unterhalb gelegene Bergsteigerdorf Mauthen als Basislager für beide Teile des KHW. Der Abschnitt östlich des Plöckenpasses ist etwas länger, dafür wechselt er auf leichteres Terrain: Anstelle von alpinem Steig streift nun gut begehbarer Wanderweg durch grüne, liebliche Almböden. Weil er von Käsealm zu Käsealm läuft, heißt der Ostteil auch Karnische Milchstraße. Eine davon ist die Egger Alm. Dort schiebt eine Braungefleckte neugierig ihren Kopf über den Holzbalken. Zum Glück ist er hoch genug, dass sie nicht an die drei Teigtaschen kommt, die auf dem Teller dampfen. Garniert mit Schnittlauchröllchen und Petersilie, sind sie auf dem Rücken kunstvoll eingedreht. Krendeln heiße das, sagt der Kellner, und dass eine Kärntnerin nur heiratsfähig sei, wenn sie das gut kann. Den Rest seiner Worte schluckt irres Gebimmel, ein Rauhaardackel kläfft am Nachbartisch vergeblich dagegen an. Immer mehr Kühe traben heran, versammeln sich um die Terrasse. Verkehrte Welt: Die Gäste speisen gefühlt mitten auf der Weide. Umringt von Kühen, die glotzen. In dem Almdorf dürfen sich die Kühe frei bewegen. Ein Zaun um jede der Hütten sperrt sie dort aus, wo sie nicht herumtrampeln sollen. Als die Wanderschuhe über den Weiderost klimpern und den lang gezogenen Hochboden verlassen, erfrischt noch feiner Geschmack von Kärntner Minze den Mund. Sie würzt die Masse aus Topfen und Kartoffelstampf in der Kärntner Nudel. Die zweite Etappe der Karnischen Milchstraße steigt aus dem Almtal, überquert die Grenze nach Italien, läuft vorbei an schroffen Wänden und durch schattigen Wald zum Gartnerkofel. Risse und Spalten zerfurchen seine Südwand kunstvoll. Sie fesselt den Blick, während die Schritte langsamer werden, sich auf den Sattel oberhalb der Garnitzenalm schleppen. Dort öffnet sich weites Panorama: Der gewaltige Trogkofel zeichnet den Riesenschornstein eines sinkenden Ozeandampfers in den Himmel.
HANDWERK UND ERFAHRUNG
Unten an der Watschiger Alm hat Elisabeth Buchacher längst ihre 46 Kühe gemolken. Die Milch vom Nachmittag reift über Nacht in der Wanne. Den Rahm schöpft sie am nächsten Morgen für die Almbutter ab. Zusammen mit der frischen Morgenmilch und reinem Naturlab käst die Sennerin Gailtaler Almkäse, der wie ein Parmesan trocken reift. Dass der Hartkäse so, wie es die Menschen im Gailtal seit Generationen machen, hergestellt wird, dafür bürgt die Ursprungsbezeichnung „g.U.“ Mit weißem Tuch im Haar schneidet die Sennerin dicke Scheiben vom Schotten, einem hellen Käse, ähnlich dem Ricotta. „Der wird aus Molke gewonnen und ganz kurz angeräuchert“, sagt sie, „ist ganz leicht und fettarm.“ Sie pfeffert und salzt, isst ihn am liebsten mit Frühlingszwiebeln und Knoblauch.
Seit Elisabeth denken kann, lag immer eigener Almkäse im Kühlschrank; wie Käsen funktioniert, hat sie von klein auf mitbekommen. „Man muss schon wissen, wie man mit der Milch umgeht“, sagt sie, „Rohmilch ist ein lebendiges Produkt, jeden Tag anders.“ Auch Temperatur und Luftfeuchte beeinflussen die Herstellung. Am letzten Sonntag im Juli wird sie den ersten Käse der Saison anschneiden. „Dieses Jahr ist besonders. Die Kräuter wachsen so üppig, die Milch ist intensiver und schaut gelber aus. Ich bin sehr gespannt.“ Ihre persönliche „Milchstraße“ führte sie auch schon auf Achornacher und Egger Alm. „Jede hat an eigenen Charakter, andere Kräuter, andere Milch, anderen Käse“, sagt sie. Und sie scheint immer das richtige Gespür dafür zu entwickeln: Sie sei die beste Sennerin weit und breit, urteilen die Leute. So auch Erni Jank, die froh ist, noch ein paar Päckchen der kräftig gelben Almbutter zu ergattern. Die hat sich die Bergwanderführerin zuvor schon verdient, als sie zügig auf orange- bis lachsfarbenen Steinblöcken emporsteigt. Über ihrem Kopf wippen die Zweige der Latschenkiefern. Wie eine Schar Zuschauer drängeln sich die Legföhren um die schmale Gasse in ihrer Mitte, als wollten sie anfeuern, auf den letzten Metern nach oben. Entlang des Karnischen Höhenwegs ruft der ein oder andere Gipfel. Eigentlich wollte Erni heute den Gartnerkofel erklimmen, den viele in die zweite Etappe der Karnischen Milchstraß einbauen. Doch am Himmel braut sich was zusammen, Wolkengewaber verhängt die Sicht. Also weicht sie auf die Kammleiten aus, 200 Meter niedriger kratzt der Nachbarberg an der Zweitausend.
Noch ein paar Schritte entlang der Kluft, die die aufgestellte Scholle oben spaltet. Dann setzt Erni ihren dicken, blauen Rucksack unter dem großen Holzkreuz ab. Daran hängt ein Kupferschild, geprägt mit dem Motiv einer Wulfenia. Im gleichen Ton glänzen die „Stamperle“, die Erni auspackt und mit ihrem selbst gemachten Zirbenschnaps füllt. „Berg Heil“, sagt sie und stößt mit einem Lächeln im Gesicht und
wehenden Haaren an, „auf den Gipfelsieg.“ Mit feinem Sirren trifft erster Regen auf. Beim Rückweg zur Watschiger Alm habe sie noch eine Überraschung, kündigt Erni an. Sie erzählt, dass am Ortseingang von Tröpolach, einem Dorf unterhalb des Nassfelds, zwei Meter hohe Wulfenia blühen, aus Schmiedeeisen. Straßen sind nach der seltenen Pflanze benannt, sogar Brot, Hotels, und in Hermagor verkauft ein Trachtenladen Shirts mit Wulfenia. Sie trägt den Namen ihres Entdeckers: Franz Xaver Freiherr von Wulfen fand diese „neue blaue Pflanze, die kein Botaniker je gesehen und beschrieben hat“ vor fast 250 Jahren. Plötzlich stoppt Erni. Mit verschmitztem Grinsen im Gesicht zeigt sie nach links. Da strahlen sie doch noch: Eine ganze Armee Wulfenia. Dicht gedrängt knüpfen sie einen Teppich, als sei es gar keine Kunst, wie Unkraut aus dem Boden zu schießen. Bis zu zwanzig Zentimeter ragen die Stängel auf, tragen leuchtende Blütenstände. Am Boden glänzen die Rosetten voller Blätter mit gewelltem Rand. Sie erinnern an einen Kuhtritt. So nennt der Volksmund die Blume, und solche braucht sie auch: Kühe verteilen ihre Samen, die besonders gut keimen, wo Klauen die Grasnarbe aufreißen. Jeder Bissen von Elisabeths Käse hilft, dass sie auch weiterhin überlebt – die einzigartige Wulfenia.
wandern
NACH DEN STERNEN GREIFEN
Zwischen Feistritzer Alm und Wolayersee verbinden Sternbilder entlang der Karnischen Milchstraße Gailtaler und italienische Almen. Beiderseits des Karnischen Höhenwegs spüren diese als Tageswanderungen oder mehrtägige Touren Geschichten nach: Dem Gailtaler Almkäse, der nur hier handgefertigt wird. Den Kriegsspuren, die sich bis heute in den „Friedensweg“ eingebrannt haben. Und dem, was das Gestein aus der Erdgeschichte erzählt. Die Sternbild-Routen sind nicht eigens markiert, die Trailangels planen dort individuelle Touren ohne Gepäck: bookyourtrail.com
- Schleichenden Schrittes
Innehalten, Eindrücke aufsaugen, mehr sehen. Diesem Motto verschreiben sich die Kärntner Slow Trails. Am Weissensee folgt einer auf knapp 9 km dem türkis schimmernden Ufer, auf knapp 6 km umrundet ein anderer den Pressegger See: kaernten.at/slowtrails
Geotrails
Acht Geotrails schlängeln sich durch vergangene Jahrmillionen, denn die Karnischen Alpen öffnen besonders eindrucksvolle Fenster in die Erdgeschichte: Es geht entlang fossiler Meeresstrände, durch versteinerten Urwald und in eine Lawinenrinne, aber auch durch Kötschach-Mauthen, in die Garnitzenklamm, ans Wasser von Zollnerund Wolayersee: geopark-karnische-alpen.at
HÜTTENTOUR
Friedensweg Der Karnische Höhenweg (KHW 403) durchquert als 150 km lange Hüttentour (reservieren!) die Karnischen Alpen: von Sillian bis Thörl-Maglern, mal auf der österreichischen, mal auf der italienischen Seite des Kamms. Viele Gesteine im Geopark Karnische Alpen erzählen aus dem Erdaltertum, in den Fels gesprengte Narben vom Ersten Weltkrieg. Der heutige „Friedensweg“ nutzt die Steige der Soldaten und teilt sich in zwei Abschnitte: sechs hochalpine Etappen von Sillian bis zum Plöckenpass. Östlich davon läuft er als Karnische Milchstraße sanfter durch weite Almböden (siehe Tourentipp Seite 95): kaernten.at, karnischer-hoehenweg.com
schmecken
GAILTALER ALMKÄSE G.U.
Die Milch für jeden Laib des würzigen, handgesennten Hartkäses stammt von Kühen, die mindestens 90 Tage auf Gailtaler Almen sömmern. Die vielen guten Kräuter dort bürgen ebenso wie die Handgriffe der Senne für seinen guten Geschmack.
GAILTALER SPECK G.G.A.
In der klaren, frischen Bergluft trocknet der Gailtaler Speck langsam und gleichmäßig. Dabei entwickelt die ebenfalls herkunftsgeschützte Spezialität (g.g.A.) ihr feines Aroma.
KÄRNTNER NUDEL
Nach einer Wanderung stärken Kärntner Nudeln: In den Teigtaschen mit kunstvoll gekrendeltem Rand würzt Minze die Füllung aus Kartoffelstampf und Quark.