Die Steine wackeln wenn die Sohlen der Wanderschuhe darauf treten. Noch ein paar Schritte, dann ist das letzte steile Stück geschafft. Kuhglocken bimmeln aus der Schweiz herauf. Das Stahlrohr, das Mario Mottini vor sechs Jahren mitschleppte, steht immer noch an der höchsten Stelle. Um neun Uhr lief er damals an der Carosello-Bergstation los, drei Stunden später rammte er das etwas andere Gipfelkreuz mit einem Pickel in den Schutt. Oben biegt es sich zum Dreieck. Daran geschweißt ist ein zum Berg gespitztes Schild: Livigno, Piz Cotschen, 3.104 S.L.M. steht darauf. Sul livello del mare bedeutet auf Italienisch über dem Meerespiegel.
Mario sucht ein paar große Platten. Die Muskeln an seinen Unterarmen spannen sich, als er sie ranschleppt und zu einem großen Haufen um das Rohr schichtet, damit es die nächsten Stürme übersteht. An der linken Brust des grauen Wanderhemds mit den hochgekrempelten Ärmeln steckt eine kleine goldene Plakette. Sie weist den kleinen, drahtigen Mann als Bergführer aus. Seine kräftige Stimme, die jeder Schützling am Berg auch von Weitem hört, spricht für die Energie, die in dem 72jährigen steckt. Er hat nicht gezählt, wie oft er schon hier oben war. Oder auf den anderen Dreitausendern, die sich in den Alpen um Livigno zacken.
Einsames Hochtal mit Luxus
Das Engadin im Westen, Schweizer Nationalpark und Stilfser Joch im Osten – dazwischen streckt sich das Hochtal. Gletscher verbreiterten die Furche des Spöl zu einer ziemlich ebenen Wanne. Im Süden begrenzt von der Forcola di Livigno. Der Pass zweigt vom Berninapass ab und ist nur im Sommer offen. Nach Norden führt nur die eine, mautpflichtige Spur im Munt-la-Schera-Tunnel aus dem Tal. Und das auch erst seit Anfang der 1970er, als ein Damm den Spöl zum großen Speichersee Lago Livigno staute. Vor diesem Tunnel und bevor man ab 1952 die zweite Passstraße ins östlich gelegene Bormio räumte, war Livigno im Winter monatelang von der Außenwelt abgeschnitten. Abseits gängiger Alpen-Achsen und mit über 1.800 Metern ziemlich hoch gelegen, trägt Livigno den Spitznamen Klein-Tibet.
Über dem 22 Kilometer langen Tal wacht „La Madonon“ – die Madonna del Soccoso. Unterhalb des Gipfels vom Monte delle Rezze steht sie auf einem gemauerten Vorspung. Grobklotzig, fast plump, bunte Blümchen vor den Füßen. „Das war kein Michelangelo, nur ein Klempner“, hatte Mario fast entschuldigend gesagt, als er am Morgen dort losging. Neben der menschengroßen Marienfigur sorgt eine Solarzelle dafür, dass „unsere liebe Frau vom Beistand“ auch nachts von unten zu sehen ist.
Zollfreies Touristen-Paradies
Obwohl tausend Höhenmeter dazwischen liegen, dringt Motorradknattern vom Boden der weiten Talwanne herauf. Darin schlängelt sich ein Häusermeer, als ob es aus dem Lago Livigno herausflösse. Sie stehen viel dichter beieinander als früher, wo sie feuersicheren Abstand einhielten, umgeben von Wiesen, die seitlich sanft aufschwingen, bis zum Wald. Er kleidet als klar abgegrenzter, dunkelgrüner Streifen die Wannenränder aus. So weit oben stößt er nach 300, vielleicht 400 Höhenmetern bereits an seine Grenze.
Was sich unten zwischen den Fassaden abspielt, sprengt das Klischee eines abgelegenen Bergdorfs: In traditionellen Stein- und Holzhäusern jagen Touristen nach Schnäppchen – Parfüm, Spielekonsolen und Kameras, Markenfashion. Luxusgüter, Alkohol und Zigaretten sind begehrt im zollfreien Einkaufparadies. Der Espresso schmeckt sensationell, auf den Tischen an der zentralen Plaza klimpern Eiswürfel in Aperol-Spritz-Gläsern. Feiner Hefeduft mischt sich mit würzigem Oregano, wenn der Kellner eine Focaccia rausträgt. Ein anderer wippt mit der Hüfte im Takt des seichten Italo-Pops, den er auflegt. Dolce Vita inmitten von Dreitausendern.
Schutzhütten für müde Wanderer
Mario, der schon als Bub Kühe hütete, findet das Geschehen im Dorf befremdlich. „Das hier ist meine Welt“, sagt er aus tiefstem Herzen und deutet auf die umliegenden Berge. Im Rücken von La Madonon zappelt die italienische Flagge im Wind. Sie steckt im gewölbten Steindach der Schutzhütte Involt da li Rèśa. Aus den Steinen der Umgebung aufgebaut, schmiegt sie sich fünf Minuten unter dem Gipfel des gleichnamigen Bergs gut getarnt in den Hang. Auf seinen 2.858 Metern peilt ein Zielfernrohr die Bergspitzen rundherum an, die Scheibe darunter verrät ihre Namen. Schneebedeckt und zum Greifen nah die Berninagruppe mit dem 4.049 Meter hohen Piz Bernina, im Osten ragt mit 3.905 Metern der Ortler heraus. Seine Kuppe steckt in einem dicken Wolkengebirge.
In dem Baitel, wie solche Schutzhütten in Livigno auch heißen, steht die obere Hälfte der zweigeteilten Tür offen. Draußen peitscht der Wind, auf dem Gasherd sprudelt das Wasser für die mitgebrachten Tortellini, mit einem Zischen öffnet sich die Dose Birra Moretti mit Schnurrbartbiertrinker darauf. In einem Regal stehen ein paar davon neben Wasserflaschen, Braulio, einem typischen Kräuterlikör aus der Region, und einer Spendenbox. Die Bänke lassen sich zu Schlafgelegenheiten verbreitern, so dass Isomatte und Schlafsack drauf passen. In den Baitels dürfen Wandernde spontan übernachten.
Berge sind für alle da
Typischerweise liegen sie am oberen Waldrand. Als Schutz für die Hirten, die dort früher die Schafe hüteten. Als seit dem Tunnelbau mehr Touristen kamen, änderte sich die Wirtschaftsweise der Livignaschi. Die Hütten verfielen. Bis Initiativen von Jägern, Frauen oder Anwohnern eines bestimmten Gebiets sie renovierten, Schlaflager bauten, oft sogar für fließend Wasser und eine Kochstelle sorgten. Wo die Einheimischen auf ihrem Sonntagsspaziergang ausgiebig mit der Familie picknicken, dürfen auch Fremde bleiben. Im Sommer wie im Winter. Nach dem Motto: die Berge sind für alle da.
Epi Bormolini, dessen riesiger Schnauzer seinen Mund versteckt, bricht manchmal im Dunkeln auf, um zum Baitel bei der Madonna hochzusteigen. Er stand lange der örtlichen Gebirgsjäger-Gruppe vor. Die Alpini haben den Unterschlupf deutlich über dem Niveau der traditionellen Hirtenhütten neu und schneelastsicher gebaut. In der Waldzone läuft er vorbei an dicken, zu ganzen Landschaften zerfurchten Stämmen. Bäume wachsen in dieser Höhe sehr langsam. Holz war knapp. Das kostbare Gut wurde den Familien im Dorf früher streng kontrolliert zugeteilt. So verströmen Lärchen und Zirbelkiefern bis heute einen derart energetisierenden, beflügelnden Duft, dass der Anstieg kinderleicht erscheint. Hier zu wandern ist reinste Aromatherapie.
Vom Schmuggeln zum Wandern
„Ich wandere gerne nachts, weil ich es als Jugendlicher gewohnt war“, sagt der Rentner, der als Bergführer auch Gäste auf Nachtwanderungen begleitet, „so drei bis vier Mal im Monat haben wir geschmuggelt.“ Dann wuchteten Epi und seine Kumpels die von den Kaufleuten bereitgelegten 30-Kilo-Rucksäcke voller Zigaretten und Kaffee auf den Rücken, marschierten auf der Hut vor den Zöllnern durch die Bergwelt. Von dem Zubrot gingen sie feiern. Seinen Lohn, den er an der Supermarktkasse verdiente, musste Epi bei der Familie abliefern. Geld war knapp. Was Böden und Klima in der Höhe abwarfen, reichte gerade so zum Überleben.
Heu für die Kühe kann hier oben nur einmal im Jahr gemäht werden. Ansonsten bauten die Livignaschi nur eine weiße Rübe an. Sie trocknete auf den Dachbalken der Häuser, bevor sie Brotteig und Würste streckte. So gleicht die Zollfreiheit das schwere Leben ein wenig aus. Wenn auch Napoleon eher kaufmännisch als wohltätig motiviert war, als er die Zollgrenze hinter der politischen zog: eine echte Zollkontrolle wäre in den hohen Bergen deutlich teurer gewesen, hatte er sich ausgerechnet.
Faszinierende, einsame Bergwelt
Vom Steinbaitel am Monte delle Rezze bahnt sich ein rot-weiß markierter Pfad durch die Steinwüste. Im Sattel unterhalb des Gipfels verlässt Mario Mottini ihn und sucht sich seine eigene Spur. „Die nächsten Stunden treffen wir keine Menschenseele“, sagt er voraus. Er wandert den sachten Hang zum Pizzo Cantone hinauf, von wo er dem Grat hinauf zum Monte Campaccio folgt, dann über ein paar kleinere Buckel zum Federia-Pass läuft. „Italiener haben nicht so eine ausgeprägte Bergkultur“, erklärt sich Mottini, dass hoch oben noch keine Wege markiert sind, „vor allem wenn sie aus der Mitte oder dem Süden kommen. Sie lieben die Frische, stiefeln aber in Flipflops los.“
Der örtliche Alpinclub hat zehn recht einfach zu meisternde Dreitausender um Livigno sichtbar gemacht, auf dem Monte Garone hat Mario sogar noch eine zweites Gipfelsignal eingegraben. In Flipflops käme man nicht so weit. Es braucht Bergschuhe mit stabiler Sohle, Trittsicherheit und Balancegefühl, wenn Hände und Füße den Grat zum Campaccio hinaufkraxeln, der Puls in der dünnen Luft schneller schlägt. „Bergauf in die Fersen drücken, bergab in die Fußspitzen und in kleinen schnellen Schritten trippeln“, sagt Mottini. Bei Ungeübten mag es unbeholfen aussehen, der Guide tänzelt abwärts – je steiler, desto graziler. Zügig, ohne jemals die Kontrolle ans lose Geröll abzutreten.
Chaos in den Bergen
Die Steine wechseln ihre Farbe. War die erste Kuppe Weiß, geht es kurz darauf über Schwarz, später ziehen sich bräunliche, rote, orange- und beigefarbene Bänder über den Grat. „Hier herrscht geologisches Chaos“, sagt Mottini. Vulkanisches Gestein und Sedimente, Gips, Dolomit und andere Minerale treffen aufeinander. „Grün bewachsene Steine sind meist vulkanischen Ursprungs, orangefarbene Flechten zeigen eher kalkhaltiges Gestein an“, sagt Mario. Aus den Ritzen, wo sich ein paar Bodenkrumen sammeln, kämpfen sich bunte Pflänzchen hervor. Hochalpine Spezialisten, von denen sich einige wie Alpen-Mohn, Alpen-Leinkraut und Moschus-Schafgarbe sogar mit losem Schutt fortbewegen. Letztere sammelt der Bergführer. Wie alle Livignaschi, setzt auch Mario damit Kräuterlikör an, den typischen Taneda.
Er gießt Tee aus seiner Thermoskanne, der man ansieht, dass sie schon auf vielen Gipfeln war. Nun wieder auf dem des Munt Cotschen. Im Gipfelbuch blitzen auch nach sechs Jahren noch weiße Seiten. Vielleicht, weil hier nur wenige hinauffinden. Vielleicht, weil ein QR-Code in die digitale Ausgabe führt. Es riecht nach Mandeln und Zimt, das Gebräu schmeckt süß. „Da ist ganz viel Honig drin“, sagt er, „das gibt Energie.“
Zurück in den Touristen-Trubel
Die braucht es für den Abstieg. Mit den Schritten, die die Oberschenkelmuskeln permanent bremsen müssen, mischt sich unterhalb eines Schneefelds allmählich mehr Grün in die Szenerie. Feinerer Schotter knirscht unter den Schuhen, in denen die Füße schmerzen. Noch tiefer grasen Kühe, verblühte Arnika säumen den Weg, bis schließlich der Federiabach im Talgrund mäandriert. Aus der Wiese voll gelber, weißer, lila- und orangefarbener Blütenflecken guckt ein Murmeltier.
Die Federiaalpe beendet die Einsamkeit mit einem heimischen Bier. Sanft, denn außer den Betreibern ist nur noch ein Gast da. Ein Herantasten an das, was in Livigno wartet und nun viel lauter wirkt. Stille und Weite in der auf Steine und Farben reduzierten Bergwelt haben die Wahrnehmung verändert.
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Livigno verstehen
Wie die Menschen die Herausforderungen in der abgeschiedenen, extremen Höhenlage Livignos über die Jahrhunderte meisterten, vermittelt das MUS!Museo di Livigno e Trepalle anschaulich: Via Domenion 51/53, I-23041 Livigno (SO), Tel. +39 0342 970296
Outdoor-Paradies
Livigno Tourismus bietet geführte Wanderungen an. Programm und Tourentipps auf livigno.eu und in der App MyLivigno, Buchung bis zum Vortag beim Livigno Tourist Info Point an der Via Plaza dal Comun.
Für individuelle Wanderungen, Klettersteig-Touren, Bike&Hikes stehen die Bergführer Livigno bereit: Tel. +39 371 3892480
Bikeparks, Klettergärten, Stand-Up-Paddling sowie entspannen im Schwimm- und Wellness-Bad Aquagrande runden Wanderungen in Livigno ab.
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Kleines Livigno-Lexion
Anders als in Südtirol spricht man in Livigno Italienisch. In dem Bergtal hat sich ein eigener Dialekt des Alpinlombardischen entwickelt, das teilweise dem benachbarten Rätoromanischen ähnelt. Einige wie Bergführer Mario Mottini haben Deutsch in der Schule gelernt, weil schon früh Touristen aus dem deutschsprachigen Raum kamen.
Wanderkarten und Wegweiser verwenden mal alpinlombardische, mal rätoromanische, mal italienische Wörter für Berge, Seen, Hütten etc. Auch die Eigennamen der Gipfel klingen mitunter sehr unterschiedlich. Hier einige Begriffe:
- Téa: das Sommerhaus zum Kühe hüten, eine Art Maiensäß am Rande der etwas höhergelegenen Wiesen.
- Malga: Bergscheune, oft eine bewirtschaftete Almhütte
- Baitèl: ehemalige Schäferhütte, heute Biwakhütte
- Rifugio, Bivacco: Schutzhütte
- Plan: Ebene
- Cheséira: Käserei
- Munt, Monte, Piz, Pizzo: Berg, Bergspitze
- Torrente: Bach
- Fiume: Fluss
- Val: Tal
- Lac, Lago, Laghetto, Lach: See
- Tröi: Weg
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Livignos Geschmackslawine
Eine traditionelle, Veltliner Spezialität sind Pizzoccheri. Pasta aus Buchweizenmehl wird mit Kartoffeln, Wirsing und Käse vermengt. Mangels anderem Gemüse, mischte man sie in Livigno früher auch mit der weißen Rübe.
Mit 1816-Etiketten klebt die örtliche Birrifico, Europas höchstgelegene Brauerei, ihre Höhenlage über Normalnull auf die Flaschen ihres köstlichen Craftbiers. Sechs Sorten füllen sie – weniger umweltfreundlich – auch in Dosen ab. 1816.it
Den verdauungsfördernden Kräuterlikör Taneda, dem die heimische Moschus-Schafgarbe eine leichte Wermut-Note verleiht, setzt so ziemlich jeder Livignaschi zuhause an. Mit etwas Glück steht im Baitel eine Flasche.
Der zweisprachige Bildband „Leina da Saor“ von Giorgio Mondadori offenbart 100 traditionelle Rezepte und 37 neu interpretierte Gerichte.