Edelweiß-Hänger baumeln vor ihren braunen Haaren. Elisabeth Mangard zupft das Stirnband zurecht. Breit schmiegt es sich unter den Bügeln der Sonnenbrille um ihren zierlichen Kopf, als wolle es gleich nach oben flutschen. Den Rucksack über die Thermoweste geworfen, stratzt die Montafonerin zackigen Schrittes los: Mitte sechzig, drahtig, mindestens so energiegeladen wie all die wütenden Wasserfälle, die auf der Tour durchs wildromantische Ganifer gehörig die Ohren durchspülen.
Doch das Stirnband trägt Elisabeth nicht etwa als Lärmschutz. „Partenen, da hat’s ganz viel Föhn. Das ist ein Südwind und der kommt gerne da vom Ganifer“, sagt sie und zeigt auf den steilen Talschluss, wo Verbella- und Vallülabach tosend durch den Wald tanzen. Eine von vielen geführten Touren im Montafon. Das Angebot ist so vielfältig wie die Bergwelt drumherum. Drei Gebirgsstöcke mit unterschiedlichem Gesteinsaufbau prallen um das Tal aufeinander: Einsames Verwall, anspruchsvolle Silvretta und geheimnisvoller Rätikon drücken Wanderungen jeweils ihren ganz eigenen Stempel auf. „Partenen ist Rätoromanisch. Heißt übersetzt: abgebranntes Dorf“, sagt Elisabeth, „darum gibt’s da ganz wenig alte Häuser.“ Bis in den nächsten Ort, nach Gaschurn, haben Föhnstürme einst die Schindeln gefegt.
Nach ein paar Schritten rauscht es erstmals – die Ill. Eine Lebensader, die sich ins Tal kerbt, das ganze Montafon auf seinen knapp vierzig Kilometern bis Bludenz durchfließt. Von Gletschern und den unteren Hängen der Dreitausender Dreiländerspitze, Piz Buin und Silvrettahorn sammelt sie ihr Wasser, gurgelt durchs Ochsental in den Silvretta-Stausee. Ein guter Ausgangspunkt für alle, die ohne Eispickel und Steigeisen schroffes Hochgebirge mit seinen Eisformationen erleben wollen. Unterhalb der Bielerhöhe kreuzt die mautpflichtige Silvretta-Hochalpenstraße immer wieder die Ill. In 32 Kehren schlingt sie sich hinunter nach Partenen, verbindet im Sommer Vorarlberg mit Galtür im Tiroler Paznauntal.
Die Straße entstand, als die Illwerke auf der Höhe Kraftwerke und Stauseen bauten. Die Energie aus der Kraft des Wassers spült nicht unwesentlich Geld ins Montafon, der Strom daraus versorgt vom Westallgäu bis Baden-Württemberg sogar deutsche Regionen. Auch Elisabeths Mann hat dort gearbeitet. „Die liefern ganz schnell, wenn es gebraucht wird“, sagt die Wanderführerin, „dann öffnet sich da oben ein Tor, und binnen Sekunden treibt Wasser die Turbinen an.“ Aus einem Steintrog plätschert es. Elisabeth füllt ihre Hände und trinkt. „Weischt, was au ganz guat isch?“, fragt sie. „Dass man sich hi abspült.“ Sie verreibt das eiskalte Nass auf ihren Pulsadern. „Da hascht gleich mehr Energie!“
Erbe von Rätoromanen und Walsern
Elisabeth wuchs mit acht Geschwistern in Gortipohl auf, wo bis heute typische Montafonerhäuser stehen, verbunden durch den drei Kilometer langen Montafonerhausweg. Wie auch im Dialekt, dem „Muntafunerisch“, verschmilzt, was erste Siedler, Räter und später Walser hinterließen: Romanische Rundbögen, hell gemauerte Eingangs- und Küchenbereiche fusionieren mit dunklem Holz, wie man es von Walserhäusern kennt, zu einem ganz eigenen Stil.
Bei ihrer Ausbildung zur Wanderführerin erfuhr die Ur-Montafonerin eigentlich nicht viel Neues: Bereits als Kind kannte sie jeden Winkel in der Natur, mit Gästen umzugehen lernte sie schon daheim. „Außerdem betrieben wir Alpwirtschaft, also die Dreistufenwirtschaft, wie wir sie hier im Montafon haben“, sagt sie. Bis heute ist ihr liebster Flecken der Maisäß ihrer Familie. Er liegt auf 1600 Metern. Keine Straße, nur eine Materialseilbahn verbindet ins Tal. „Des ischt die zweite Stufe, wo der Bauer zum Teil heute noch im Monat Mai mit dem Vieh hochgeht“, erklärt sie, „Wenn du da obe bisch um 8 Uhr morgens, du siescht ins Tal, dann willscht gar nix mehr.“
Dieser Dreistufenwirtschaft – Tal, Maisäß, Alpe – widmet der heimische Künstler Roland Haas seine Skulpturen. Auf dem gemütlich wanderbaren Themenweg Gauertaler Alpkultour bei Tschagguns überraschen sie uns am nächsten Tag an vielen Stellen. Etwa, wenn ein glattgeschälter Fichtenstamm zwischen orangerot gefärbten Blaubeersträuchern aufstakt, sein tellerförmiges Wurzelwerk gen Himmel reckt. Der tote, umgekehrte Baum soll das Diesseitige verbinden mit der „Anderswelt“.
Christl Tschugmell schaut hoch. Unterhalb seiner „Krone“ kerben sich buchstabenähnliche Zeichen ins Holz. „Jeder Hof hatte sein eigenes Hauszeichen. Früher, als die Menschen oft nicht lesen und schreiben konnten, war das auch die Unterschrift“, sagt sie, „das erinnert an diese alten Zeiten, wo man noch so abergläubisch war. Immer wenn etwas passierte, hat man g’sagt: ‚ja, wir haben doch das und das gesehen, das war wie das Zeichen von dem und dem‘.“ Und so reimte man sich etwas zusammen, fürchtete weiteres Unheil. Oft schaurige Geschichten.
Von unten rauscht es, ein paar Vögelchen zwitschern zart. Christl, ihr Stirnband passt perfekt zur pinken Fleecejacke, hat sich auf die Holzbank gesetzt. Die Wanderführerin aus Schruns zieht die Wanderkarte aus dem Netzfach am Rucksack und faltet sie auf. „Hier läuft der Latschätzer Höhenweg“, sagt sie und folgt mit dem Finger der Linie, die sich von der Bergstation auf dem Golm über den westlichen Hang des Gauertals zur Lindauer Hütte schlängelt. Dort reihen sich die Skulpturen der Gauertaler Alpkultour. Eine eigene Markierung hat die Route nicht. Es hilft, den Track vorher aufs Handy zu laden.
Der Weg fällt locker ab. An einem steileren Hang unterbricht sumpfiges Gelände die Sträucher: Lange Gräser strubbeln über den Boden, die Farnwedel sind schon abgestorben. Ein riesiger roter Pfeil zeigt nach unten, in den Fels, auf dem er steht. Christl fasst ans kühle Metall und rotiert ihn. Wie die eisernen Drehkreuze, durch die man Weiden betritt oder verlässt. Einsam stecken sie noch mitten im Pfad, die Hirten haben schon abgezäunt. Jemand läuft achtlos vorbei, Christl ruft ihm zu: „Der Pfeil deutet auf eine Quelle. Daraus kann man trinken.“ Das Gestein wirkt wie ein Filter, die Qualität des Wassers ist besonders gut.
Das verrät eine kleine Tafel. Sie passt auf die Schnittfläche des Pflocks, der kurz vor dem Pfeil steht. So ist sie zwar leicht zu übersehen, wahrt aber das Landschaftsbild. Wem das „Muntafunerisch“ darauf zu hoch ist, der scannt den QR-Code und liest auf seinem Display Hochdeutsch. Anstelle von erklärenden Tafeln wollte Roland Haas lieber mit kunstvollen Installationen den Blick auf die Facetten der Alpwirtschaft lenken. Aufmerksam machen, zu Diskussionen anregen, Bewusstsein erzeugen – für diesen Kulturschatz.
Das viele gute Wasser steigert auch die Qualität von Milch und Käse. Den typischen Sura Kees stellen Alpen und Höfe im Montafon schon seit dem 13. Jahrhundert aus Magermilch her. Das Fett in der Milch brauchte man für Butter, so hat die Spezialität höchstens ein Prozent Gehalt. „Anfangs ist er bröselig, dann wird er ein bisschen feiner in der Struktur, wie Feta von der Kuh. Wenn man ihn lange lagert, bekommt er eine sogenannte Muffe“, beschreibt Christl. Die speckige Schicht dringt immer tiefer ein und intensiviert das Aroma.
Beim Einstieg am Berghof Golm hatte die Wirtin einen ganz jungen Sura Kees zum Kosten gereicht. Die deutlich mildere Variante steht auf vielen Speisekarten im Tal: mit Butter und Brot; in Essig, Öl und Zwiebeln eingelegt; von Speck ummantelt und angebraten. Kleine, helle Würfel erinnern in ihrer Konsistenz an Fetakäse, nur von der Kuh. Sie riechen wie Brötchenteig mit Hefe und schmecken, der Name lässt es erahnen, leicht säuerlich.
Bei der Unteren Sporaalpe spannen sich parallele Drähte in einer riesigen Astgabel. Von einem Felsen lehnt sie sich über den Abgrund. Keine Mega-Zwille, nein, eine überdimensionale Käseharfe. Warum würdigt Haas die Arbeit der Sennen mit einem Instrument, das beim Käsen von Hartkäse den Bruch schneidet? Ganz einfach, inzwischen wird hier auch „fett gsennat“ – auch im Montafon erweitert heute Hartkäse die traditionelle Produktpalette.
Doch bis hierher braucht die Alpkultour noch eine Weile. Sie kommt an der Oberen Latschätzalpe vorbei: Es riecht noch würzig, obwohl die Kuhfladen längst trocken und hart im Gras liegen. Fenster und Türen der Hütten sind winterfest verrammelt, auf der Wiese pfeift kein Murmeltier mehr. Nur „der Wächter“ harrt aus. Wie ein Hirte, der Tiere beschützt, breitet auch diese Installation oben ihre Wurzeln aus. Weiter geht es mit dem belebenden Duft von Latschenkiefern in der Nase. Dann rücken die zackigen, leicht eingezuckerten Wände des Rätikons immer näher. Sulzfluh, Drei Türme, Drusenfluh. Schroffer Kalkstein, ein Anblick wie in den Dolomiten.
Die steinerne Visitenkarte
Gut zum Klettern. Bergsteiger beschreiben das Gelände verglichen mit der Silvretta als sanfter. Dennoch schaffte es erst 1870 ein Bergführer auf die Spitze der Drusenfluh. Viele zweifelten an seinem Gipfelsturm, dauerte es doch 18 Jahre, bis zwei andere Christian Zudrell folgten. Ganz oben fanden sie sein eingemeißeltes „CZ 70“. Neben der Erstbesteigung hatte Zudrell also die steinerne Visitenkarte erfunden. Etwas sperrig liegt sie nun in einem Schaukasten neben der Lindauer Hütte – ein Bergsteiger rettete das Dokument vor weiterer Erosion.
Christl steht von der Bank auf, die sich an der Fassade aus feinen, noch hellen Holzschindeln entlangzieht. Sie rollt ihr Sitzkissen ein. „Ich hab’s mit einem Bändsel an den Rucksack gebunden, sonst verlier ich’s dauernd“, erklärt sie. Das wäre schade, weil es aus der Wolle des Montafoner Steinschafs gefilzt ist. Auch zu der heimischen Rasse, die fast ausgestorben wäre, gibt es den passenden Themenweg. Damit im Bewusstsein bleibt, was das Tal jahrhundertelang geformt hat. Das Typische und Traditionelle.
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Drei Gebirge
Das Montafon nennt sich Alpenmosaik, weil gleich drei verschiedene Gebirgsgruppen das Vorarlberger Tal einrahmen: Verwall, Silvretta und Rätikon drücken mit ihrem jeweils eigenen Charakter Wanderungen ihren Stempel auf.
Das Verwall begrenzt das Montafon im Norden. Große Teile schützen als europäisches Natura-2000-Gebiet Vögel wie Alpenschneehuhn, Auerhuhn und Birkhuhn. Sie finden im von Felsen und Mooren durchsetzten Grasland der ursprünglichen, einsamen Kuppen Rückzugsräume.
Die Silvretta im Süden ist viel stärker vergletschert. Blau schimmernde Eisfelder speisen Seen und Flüsse. Dreitausender wie der Piz Buin locken zu ambitionierteren Bergtouren ins kargere Hochgebirge.
Im Westen formt das kalkhaltige Gestein des Rätikons schroffe Felsformationen und zackige Grate. Ein Paradies für Kletterer und Bergsteiger, aber auch Wanderer können auf alpinem, gesichertem Steig Höhen wie die Sulzfluh erklimmen.
wirtschaften
Wasserkraft
Die unbändige Kraft des Wassers aus der Silvretta erzeugt Strom. So viel, dass er noch andere Teile Vorarlbergs und das Westallgäu versorgt. Die Betreiberfirma der Kraftwerke ist einer der größten Arbeitgeber im Montafon.
Sura Kees
Seit Jahrhunderten produzieren Almen und Hofsennereien im Montafon aus Magermilch Sura Kees. Mit Feta-ähnlicher Konsistenz hat er nur 0,5 bis 10 Prozent Fett, schmeckt erst frisch-würzig, später pikant-säuerlich und wird traditionell mit Brot, Butter und Zwiebeln verspeist.
bewahren
Montafonerhaus
Die traditionellen Häuser wurden aus Holz und Stein gebaut. Im gemauerten, feuerfesten Teil befindet sich die Küche mit dem Kachelofen; Wohnstube und Schlafkammer liegen im behaglicheren Holzbereich. Die Fassaden der zweckmäßigen Bauten sind oft kunstvoll verziert. Mehr zur Bauweise verrät der 3 km lange Montafonerhausweg in Gortipohl.
Montafoner Mundart
Die UNESCO schützt „Muntafunerisch“ als immaterielles Kulturerbe. In diesem besonderen Dialekt mischen sich rätoromanische, walserische und niederalemannische Elemente. Viele Orts, Flur und Bergnamen sind rätoromanischen Ursprungs. Eine Datenbank hilft zu verstehen: muntafunerisch.at
Montafoner Steinschaf
Seit 1989 bemüht sich eine Zuchtinitiative, wieder mehr Landwirte für das robuste Montafoner Steinschaf zu begeistern. Nur noch wenige Tiere der vom Aussterben bedrohten Rasse grasten im hintersten Montafon, nun weiden rund 400 Exemplare in Vorarlberg. Die hochwertige Wolle glänzt in vielfältigen Tönen von hell bis dunkel. montafoner-steinschaf.com