Stolz sind sie in Reit im Winkl. Darauf, dass sie eigentlich immer Schnee haben, in fast jedem Winter. Sie können das auch erklären, mit Wörtern wie „Schneeloch“ und „Kaltluftsee“, mit denen Meteorologen vermutlich eine Menge anfangen können. Jedenfalls ist dieses Loch rund 700 Meter über Normalnull meistens gut gefüllt, eine weiße Pracht. Nun aber, ausgerechnet bei unserer Ankunft, ist das Tal grün. Der Zwiebelturm der Kirche, die ausladenden Dächer der Häuser – komplett schneefrei. Walter Wolfenstetter, mit dem wir in den nächsten Tagen zu Schneeschuhwanderungen aufbrechen wollen, hat Trost für uns. „Wir haben das Glück, dass wir zwei Hochplateaus haben, die Hemmersuppenalm und die Winklmoosalm.“ Und da, versichert er, liegt Schnee. Walter muss es wissen, er ist in Reit im Winkl geboren, Jahrgang 1958. Im Sommer arbeitet er im Freibad, im Winter als Bergwanderführer. Es gibt in Reit im Winkl eine Handvoll Leute, die Schneeschuhwanderungen anbieten, Walter ist einer von ihnen. „Wenn’s schneit, dann klingelt das Telefon.“ Fast jeden Tag ist er dann unterwegs, in manchen Jahren bis in die zweite Aprilhälfte hinein, wenn auf der Südseite der Berge schon Krokusse und Huflattich blühen.
Wir treffen Walter zu einem Vorgespräch. Denn er will wissen: jung oder alt, Sportler oder Anfänger. Erst danach legt er die Route fest. Bei uns ist schnell klar: Hemmersuppenalm, einfaches Gelände offenbar. Dann die große Frage: Was ziehe ich an? Die Alm liegt rund 500 Meter höher, es ist also kälter. Zugleich bringt der Föhn ungewohnt milde Temperaturen. „Nicht zu warm“, lautet Walters Tipp. „Keine lange Unterhose. Und oben Zwiebelprinzip.“ Er selbst trägt fast immer vier Lagen und überlegt nur, welches Unterhemd, ob „dick oder dünn“.
Fehlen nur noch die Schneeschuhe. Die holen wir uns bei der „Skihütte“, einem Verleiher im Ort. Ich habe Schuhgröße 47. Kein Problem, sagt Mitarbeiter Andreas Thoms und sucht ein passendes Paar heraus. Und dazu spezielle Teleskopstöcke aus Carbon, „superleicht“ und in der Höhe verstellbar. „Wenn du länger bergauf gehst, machst du dir die Stöcke etwas kürzer.“ Ich nicke, er muss ja nicht wissen, wo wir wandern.
Auf zur Hindenburghütte
Am nächsten Morgen. Walter mustert mich, die flotte Outfitkontrolle. „Die Jeans zieht von unten her Feuchtigkeit“, sagt er und kramt ein paar Gamaschen hervor. Und der Rest? „Passt scho!“ Das sagen sie hier ziemlich oft, um nicht zu sagen: „brutal“ oft. Es heißt so viel wie: „Alles klar“ oder „Schon in Ordnung“. Da lässt man auch mal Fünfe gerade sein.
Zur Hemmersuppenalm fahren wir mit einem Shuttlebus, er pendelt zwischen Reit im Winkl und der Hindenburghütte, sechs Kilometer, das letzte Stück auf einer steilen Betonpiste, die im Winter nur von der Familie Dirnhofer, den Hüttenbesitzern, befahren werden darf. Der Shuttle hat Allradantrieb und Schneeketten. Am Steuer: Simon Dirnhofer. „Dös geht scho noch mit dem Langlaufen?“, fragt eine Frau mit Skiern. „Ja, frische Spur“, beruhigt Simon. Meine Tochter Hannah hat andere Sorgen: „Hat man da oben Netz?“, fragt sie. „Nicht überall“, antwortet Simon, „und wenn, dann österreichisches“. Kein Wunder, wir sind unmittelbar an der Grenze. Im Bus sind wir die einzigen Schneeschuhwanderer, dabei ist diese Aktivität inzwischen so beliebt wie das Langlaufen, sagt Simon. „Das hat enorm zugenommen, vor zehn Jahren war das noch kein Thema.“
Bei der Hindenburghütte auf gut 1200 Metern Höhe begrüßt uns sein Vater, Günter Dirnhofer, ein Bär von Mann mit festem Händedruck. „Über 1000 Meter gibt’s nur das Du.“ Seit 33 Jahren betreibt er den Alpengasthof, hier stärken sich Wanderer und Wintersportler. 30 Kilometer Langlaufloipen gibt es auf der Alm. Und daneben Wanderwege, darunter Deutschlands erster Premium-Winterwanderweg. Dirnhofer spurt die Wege mit seiner Pistenraupe, bei neuem Schnee auch mehrmals täglich. Wir mit unseren Schneeschuhen gehen abseits dieser Wege, die Alm ist groß genug. „Wenn du willst, kannst du den ganzen Tag flach rumrennen“, sagt Dirnhofer. Ins Gehege kommt man sich kaum, jeden falls nicht in der Nebensaison.
Anfängerglück im Neuschnee
Ab in die Schneeschuhe. Einfach Fuß reinstellen, an einem Knopf drehen, festziehen, fertig. Der Schuh ist vorne etwas breiter und nach hinten hin tailliert, „ein durchdachtes Gerät“, sagt Walter. Früher war so ein Schneeschuh nicht viel mehr als ein gebogener Ast mit einem Geflecht aus Lederschnüren, „für den Weg zum Heustadel“. Die moderne Variante ist aus Kunststoff, hat unten Zacken aus Metall und eine Steighilfe unter der Ferse. Die klappt man mit der Hand aus, wenn es steiler wird, „eine Kraftersparnis und weniger Belastung für Gelenke und Muskeln“.
Mit den Schneeschuhen fühlen wir uns sofort sicher, sicherer jedenfalls als ohne. Wir stapfen durch eine Bilderbuchlandschaft, Walter vorneweg. „Der Schnee ist heute super, ein frischer Untergrund und ein paar Zentimeter feinster Neuschnee.“ Und kein gefrorener Harschschnee, durch den man ständig einbricht. „Das geht nicht nur auf die Knie, sondern auch auf die Psyche.“
Walter geht es langsam an, „den Leuten geht sonst die Kondition aus“. Der Schnee knirscht bei jedem Schritt. Wenn wir stehen bleiben, ist es absolut ruhig – der Schnee schluckt den Schall. Kein Vogel ist zu hören, nur manchmal streift Wind durch die nahen Bäume. Die Landschaft ist gleißend weiß, ich hätte eine Sonnenbrille mitnehmen sollen, Walter und Hannah waren klüger. Wir kreuzen den Weg eines Hasen, die Vorder- und Hinterläufe sind deutlich zu erkennen. Walter hebt einen Köttel auf und zerbröselt ihn: „Schön faserig, ein Pflanzenfresser“. Ein paar Meter weiter bückt er sich erneut, ein paar kleine Fichtensamen, leicht klebrig. Hannah beißt drauf: „Schmeckt nach Sauna“. Die Fichte ist der „Brotbaum der Bauern“, erzählt Walter, im Sommer sieht man seine flachen Wurzeln am felsigen Boden.
Der nächste Baum links. Walter rammt seine Stöcke in den Schnee, stülpt die Handschuhe drüber und pflückt ein bisschen Bartflechte vom Baum, für ihn ein Gütesiegel: „Die wächst nur in Gebieten mit bester Luftqualität.“ Er ist eben auch ein Lokalpatriot, der Walter. Passt scho!
Logenplätze in der Natur
Der Menkenkaser, eine schmucke alte Almhütte 1250 Meter über Normalnull. Mit einer Bank vor dem Haus, das im Gegensatz zu vielen anderen nach Süden ausgerichtet ist, wir könnten also fast den ganzen Tag in der Sonne sitzen. Hier serviert Walter seinen Energydrink, ein warmes Mixgetränk aus dem Hause Wolfenstetter. Was sonst noch so in seinem Rucksack ist? Walter packt aus: Verbandszeug, Blasenpflaster, Traubenzucker, Handschuhwärmer, ein Sitzkissen, ein Werkzeugset und eine Reserveachse für Schneeschuhe. Unter anderem.
Von der Bank beim Menkenkaser bis zur Bank an der Anna-Kapelle sind es nur ein paar Schritte. Allerdings ist dieser Logenplatz oft besetzt, das 1906 erbaute Kirchlein bildet den Mittelpunkt der Alm. Fortgeschrittene wandern von hier aus weiter zum Straubinger Haus (1558 m), gut 300 Höhenmeter in zwei Stunden. Oder noch einmal 50 Minuten und 200 Höhenmeter hinauf zum Fellhorn (1764 m). Nichts für uns. Überhaupt ist das Fellhorn mit seinen Schneewächten, also Ablagerungen an Geländekanten, nicht ungefährlich für Leute, die sich in der Gegend überhaupt nicht auskennen, sagt Walter. „Wenn irgendwo eine Spur ist, geht der Nächste nach – ein Kapitalfehler.“ Und wenn am Fellhorn Nebel aufzieht, dann ist alles weiß, dann gibt es kein oben und kein unten mehr, das hat er selbst schon erlebt. „Du gehst im Kreis, immer nach links, kommst irgendwann wieder auf deine alte Spur zurück – und hast ein massives Problem.“ Walter checkt vor jeder Tour im Internet die einschlägigen Wetterportale. Außerdem hat er für den Fall der Fälle auch Karte, Kompass und Höhenmesser dabei. Aber die bleiben heute im Rucksack.
Ein Schmankerl zum Schluss
Noch ein kurzer Blick auf die verschneiten Dächer der Hütten auf der Oberen Hemmersuppenalm, dann treten wir den Rückweg an. Eine Weile laufen wir schweigend nebeneinander her, versinken im Schnee und in unseren Gedanken, ein fast meditatives Vergnügen. Noch einmal entdecken wir Tierspuren, diesmal in ganz gleichmäßigen Abständen. „Ein Fuchs“, sagt Walter, er setzt die Hinterläufe in die Abdrücke der Vorderläufe, er „schnürt“. Füchse riechen Mäuse unter der Schneedecke, selbst in einer Tiefe von einem halben Meter.
Günter Dirnhofer erwartet uns schon. Er steht neben seiner Pistenraupe und winkt, ein Gute-Laune-Garant. Die Einkehr in seine Hütte ist der krönende Abschluss einer solchen Runde. Dirnhofer empfiehlt „Rahmfleckerl“ aus dem Holzofen, seine „bayrische Antwort“ auf Pizza. An manchen Tagen verköstigt er bis zu 300 Menschen. Dabei könnte er jedem Gast ein anderes Bier servieren, 300 verschiedene hat er auf Lager. Und zu jedem kann er was erzählen, schließlich ist er diplomierter Biersommelier. Nur Latte Macchiato gibt’s bei ihm nicht. „Eine gewisse Sturheit musst du haben, sonst kannst du am Berg hier oben nicht überleben.“
Ein himmlischer Ort
Die Winklmoosalm ist das touristische Aushängeschild von Reit im Winkl, bekannt vor allem dank Olympiasiegerin Rosi Mittermaier. Hier starten Wanderungen beispielsweise zum Dürrnbachhorn, einem der schönsten Gipfel in den Chiemgauer Bergen. Der Besuch lohnt auch spät am Abend, denn die Alm ist seit 2018 von der International Dark Sky Association (IDA) als Sternenpark anerkannt – der erste in den Alpen. Das ist ganz wesentlich auch ein Verdienst von Manuel Philipp, der sich der Astronomie verschrieben hat. Philipp bietet von Mai bis Oktober wöchentlich eine Sternenführung an. Dabei verliert er zunächst ein paar Worte zur Lichtverschmutzung und zu den Satelliten, die am Himmel ihre Bahnen ziehen. Und dann erläutert er die Sterne. Je dunkler es wird, desto mehr sind zu sehen, in sehr klaren Nächten bis zu 6000 – ohne Fernglas oder Spektiv. Zum Vergleich: In München sind es mit Glück vielleicht 200.
Die Hemmersuppenalm
Vor Jahrhunderten schufen die Bauern durch Rodung von Wäldern in Bergregionen neue Weideflächen, die „Hochweiden“, lateinisch „alpis“, woraus sich das Wort Alm ableitet. Die Hemmersuppenalm ist eine der vielen Almen rund um Reit im Winkl. Es ist eine Genossenschaftsalm, mehrere Bauern bewirtschaften sie mit ihrem Vieh gemeinsam. Die Almrechte wurden bereits 1474 in einer Urkunde erwähnt. Heute bemisst sich das Weiderecht der einzelnen Almgenossen nach „Kuhgräsern“, die Anzahl der Weidetiere hängt ab von der Größe des jeweiligen Hofes. Die Weidetiere meiden übrigens klugerweise den Namensgeber der Alm, den Weißen Germer („Hemmer“). Der Nieswurz gedeiht in den nassen, moosigen Senken („Suppen“), um die die Kühe ebenfalls einen Bogen machen. Die Hemmersuppenalm ist vielleicht nicht ganz so bekannt wie die Winklmoosalm, aber nicht minder schön. Und der Ausblick auf den Chiemsee und die umliegenden Berggipfel ist inklusive.